Essen. Als Europa eine gewaltige Pandemie erschütterte, gab es weder Meldepflicht noch Impfstoff. Ein Rückblick auf den „schwarzen Tod“.
„Sie kommt von einem Tier“, sagen die einen. „Sie kommt fern von Ost“, sagen die anderen. Vermutlich haben beide Recht. Sie reist schnell, letzten Monat war sie noch an der Küste, jetzt wütet sie schon in den Tälern. Flucht scheint zwecklos, wie eine Zange umarmt die Krankheit Dorf und Stadt.
Mancher Chronist malt den Schrecken in monströsen Farben aus, andere mildern das Grauen vorsätzlich ab. Jeder hat seine Gründe. Die Zahl der Toten steigt täglich schneller – und mit ihr die Angst. In Italien erhöhen Apotheker hemmungslos die Preise für vermeintliche Gegenmittel. Die Totengräber ziehen bald nach, europaweit. Gestorben wird so schnell und viel wie sonst nur im Krieg. Nein, mehr noch. Europa hat seine erste Pandemie seit Menschengedenken.
Vor fast 700 Jahren erlebte Europa seine erste Pandemie. 25 Millionen starben
Das ist mehr als 670 Jahre her. Ein Kontinent erlebt die Pest. Der „schwarze Tod“ wütet mehr als sechs Jahre, ein Drittel der Menschen, die damals zwischen Bremen und Sevilla, Genua und Oslo leben, sterben. Die geschätzte Zahl in einem Mittelalter ohne Einwohnermeldeamt: 25 Millionen Tote. Die Inkubationszeit betrug 14 Tage.
Wie blicken wir 2020 als Gesellschaft auf dem vermeintlichen Gipfel der Zivilisation auf so epochales Elend? Natürlich mit gebotener Distanz, überlegen, weil doch brillant informiert über Virenspezies wie Tröpfcheninfektion – und doch aktuell verunsichert wie vielleicht seit Bestehen der Republik nicht.
Die Pest, der schwarze Tod: So viele starben, niemand wusste, woran
Die Welt vor uns war ohne jedes Wissen über das, was ihr zwischen 1346 und 1353 geschah. „Alles besiegt der Tod. Er kommt mit Schrecken, und kein Versteck ist sicher“, schreibt Petrarca (1304-74) in einem Gedicht über die Pest. Jedermann starb, und nicht einer wusste, woran. Niemand kannte das unsichtbare anaerobe Stäbchenbakterium Yersinia pestis. Es soll noch 550 Jahre dauern, bis ein Schweizer es entdeckt – und dazu ein klitzekleines Gefährt, um von Ratten auf Menschen zu wechseln. Das Transportmittel des Bazillus: ein Floh!
Wer aber nichts weiß, vermutet. Und schlimmer noch: braucht Schuldige. Daraus folgt, da die Menschen unter eitrigen Beulen im Todeskampf lagen, erst Unfug, dann ein Vernichtungszug. Wissenschaftler glauben an eine üble Konstellation von Saturn, Jupiter und Mars. Die Masse aber ist sicher: Dies ist ein Strafe Gottes! Und nun straft man Außenseiter. Mit der Pest erreicht die Judenverfolgung ein nie gekanntes Ausmaß. Von Frankreich aus führt ein Feldzug gegen die jüdische Bevölkerung als „Brunnenvergifter“ über Genf bis Köln und Nürnberg. In manchen Regionen wird schon gefoltert und verbrannt, obschon die Pest nicht einmal angekommen ist. Das Juden-Pogrom ist das größte Massenmorden des Mittelalters. Es gibt wenig Zweifel, dass Habgier die Vernichtung befeuert. Verzweifelte Juden in Speyer und Worms zünden ihre eigenen Synagogen an, um darin zu sterben.
In den Städten kommt es zu gespenstischen Prozessionen. Mit theatralischer Drastik ziehen die Flagellanten oder Geißelbrüder herum. Öffentlich strafen sich Männer, oft aus unteren Schichten, halbnackt und deuten pantomimisch ihre Sünden an. Die Seelenängste des Publikums werden durch diese Bewegung während der grassierenden Pest gesteigert - möglicherweise schüren sie auch die Feindseligkeit gegenüber Juden.
Die Pest: Historiker sprechen kühl vom „demografischen Aderlass“.
1353 kommt die Pest zum Erliegen. Niemand ist sicher, wie das geschieht. Irgendwann fehlen wohl die Überträger. Und: Es überleben die, die stärker sind als andere.
Der Nüchternheit verpflichtete Historiker blicken heute auf einen „demografischen Aderlass“. Die Menschheit hat ihn überlebt. Das Leben ging weiter; nicht unbedingt war es das eigene.