Essen. Für Carlos Santana und seine drummende Frau Cindy sind Konzerte „heiliger Beischlaf“. Der Hippie predigt unermüdlich Liebe - und: „keine Angst!“
Vor 50 Jahren veröffentlichte Carlos Santana sein erstes Album und spielte beim legendären Woodstock-Festival, vor 20 Jahren brachte er sein großes Comeback-Album „Supernatural“ heraus, mit dem Nr. 1-Hit „Maria Maria“, der heute von HipHoppern und DJs rauf und runter zitiert wird. Und nun? Ist wieder einmal mit dem Gitarrenvirtuosen („Black Magic Woman“) zu rechnen. Mit seinem fulminanten aktuellen Album „Africa Speaks“ und allen Klassikern, kommt Santana im März auf Tournee. Vorher sprach Steffen Rüth mit ihm.
Carlos, Sie sind 72 Jahre alt. Entspricht diese Zahl in etwa auch Ihrem gefühlten Alter?
Santana: Die Ziffern können wir behalten, aber wir müssen sie umdrehen. 27 trifft es eher. Manchmal fühle ich mich sogar mehr wie 17. Einigen wir uns auf irgendetwas in dieser Spanne, mit täglich leichten Schwankungen.
Europa-Tournee
Santana spielt: 15. März Zürich (Hallenstadion); 20. März Wien (Stadthalle); 22. März München (Olympiahalle); 23. März Köln (Arena); 24. März Antwerpen (Sportpaleis); 27. März London (Millennium Dome); 31. März Amsterdam (Ziggo Dome).
Das Alter ist für Sie also nicht mehr als eine Zahl?
Es ist sogar noch weniger als eine Zahl. Ich gebe dieser Sache keine emotionale Aufmerksamkeit, ich investiere keine Lebenskraft darin, mir Gedanken darüber zu machen, wie sich ein 72-jähriger Mann in der heutigen Gesellschaft verhalten sollte. Ich begegne so vielen Leuten, die jünger sind als ich, aber doppelt so alt aussehen. Wie die schon gehen, wie sie reden, wie Menschen, die nichts mehr vom Leben erwarten und bestenfalls in Ruhe gelassen werden wollen. Ich selbst will für alle Zeiten meine Unschuld und den Hunger auf Abenteuer behalten. Wenn du das hast, bleibst du ganz von alleine jung. Wer alt wird, wird auch zynisch und arrogant. Beides sind Eigenschaften, die ich verachte. Es gibt Teenager, die wirken auf mich älter als ich selbst – weil sie Angst haben. Vor der Zukunft, vor dem Leben, vor allem. Angst macht dich alt.
Und was hält jung?
Die Liebe.
Und ihre größte ist das Gitarrenspiel?
Dem Spiel auf der Gitarre habe ich mein ganzes Leben gewidmet. Diese Woche habe ich frei. Wir haben gerade einen Tour-Abschnitt beendet und werden in einigen Tagen wieder loslegen. Und was mache ich? Wie verbringe ich den Tag?
Die Frage scheint mir rhetorisch und die Antwort nicht „am Pool bei einem kalten Bier“ zu sein.
Richtig, mein Freund. Ich bin schon seit heute Vormittag dabei, mir diese neue Melodie einzuprägen und die passenden Akkorde dazu zu spielen (er fängt an zu summen). Eine Melodie zu den Menschen zu transportieren, das ist für mich so bedeutsam, wie Menschen in der Wüste mit frischem Wasser zu versorgen. Wir alle brauchen Musik zum Leben. Denn Musik gibt uns Menschen Mut und Hoffnung.
Ihr aktuelles Album heißt „Africa Speaks“. Was sagt der Kontinent denn?
Afrika sagt, dass Frieden, Freude und Licht stärker sind als die Angst. Hoffnung, Mut und Liebe sind die wichtigsten Werte überhaupt, und sie stecken überall in diesem Stücken.
An diese Dinge haben Sie aber immer schon geglaubt.
Ja, das ist wahr. Es ist doch erfreulich, wenn jemand beständig ist und Widerstand zeigt, resilient ist.
Heute mehr denn je?
Ja. Ich möchte ein angstfreies Leben in beunruhigenden Zeiten fördern und vorleben. Weite Teile der Politik und der Medien heizen das Auseinanderdriften an, überall auf der Welt, auch bei euch in Europa. Die Angst wird hochgehalten, Zwietracht und Grenzen werden propagiert, der Handelskrieg ist das neue Ideal. Furchtbar.
Sie sind in Mexiko zur Welt gekommen und als Kind mit Ihren Eltern in die USA, nach San Francisco, eingewandert. Was denken Sie, wenn Sie Donald Trump über seine Mauer an der mexikanischen Grenze reden hören?
Ich denke, dass Trump falsch liegt. Dass er einen großen Fehler macht. Hat denn die Berliner Mauer funktioniert? Ich weiß noch sehr gut, wie sich auch hier bei uns alle in den Armen lagen, als die Mauer vor 30 Jahren fiel. Überall feierten die Menschen damals Einheit und Harmonie. Eine Mauer ist das Gegenteil. Eine Mauer ist ein Bauwerk der Angst, der Abschottung, der Gier. Aber Europa ist ja leider nicht besser, bei euch ist die Mauer das Meer. Das ist doch unerträglich, dass die Afrikaner auf ihren Flüchtlingsbooten nicht mehr in Europa anliegen dürfen und ziellos durchs Meer driften und dabei nicht selten kentern. Wir spielen Musik, und auf diesem Album speziell afrikanische Musik, damit sich die Leute entspannen und akzeptieren, dass sie Menschen sind. Und dass alle anderen Menschen auch Menschen sind. Und keine Fremden, Eindringlinge oder Feinde. Ich meine, wir leben doch alle auf demselben Planeten und nicht in verschiedenen Galaxien! (lacht).
Sind Sie ein Hippie?
Immer gewesen. Ich sehe mich in der Tradition von Bob Marley oder John Lennon. Wir sind Träumer, aber wir haben auch etwas geschaffen und vorgelebt, nämlich eine friedliche Atmosphäre aus Harmonie und Mitgefühl. Es gibt mir Energie und Lust, wie ein kleines Kind auf die Welt zu schauen. Ohne Zynismus, ohne Überheblichkeit. Ich weigere mich zu denken, dass die ganze Welt vor die Hunde geht. Da können Pentagon, FBI, CIA und Hollywood noch soviel Geld damit verdienen, Angst zu verkaufen. Mich langweilt Angst gewaltig.
Sie sind 1969 beim legendären Woodstock-Festival aufgetreten, was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie daran zurückdenken?
Woodstock war ein göttliches Desaster. Es gab kaum Essen und keine Unterkünfte, das Wetter war grässlich, und doch war alles friedlich und liebevoll, die Menschen passten aufeinander auf. Es gab keine Gewalt, keine Kämpfe, man kümmerte sich um einander. Bis heute reden die Leute zu Recht über Woodstock als dieses mystische Ereignis.
Auch damals war die Welt in Aufruhr. Die USA kämpften im Vietnamkrieg, Rassenungerechtigkeiten waren ein noch größeres Thema als heute.
Und dann kamen die Hippies. Man kann die Situationen 1969 und 2019 total gut vergleichen. Donald Trump repräsentiert die gleichen Prinzipien wie Lyndon B. Johnson, wie Ronald Reagan, wie Richard Nixon. Trump ist das Aushängeschild für alles Schlechte und Niederträchtige. Auch er ist ein Angst-Verkäufer. Und seinerseits wird er kontrolliert von Menschen im Hintergrund, Menschen, die noch viel mehr Geld haben als er. Der Film, den Trump aufführt, ist fad und durchschaubar.
Erinnern Sie die Jugendlichen, die gegen Waffenbesitz oder den Klimawandel demonstrieren an die Hippies von früher?
Die Kids sind toll. Die machen mir richtig Mut, dass die Menschen doch etwas lernen und sich weiterentwickeln können.
Wo haben Sie eigentlich die spanische Sängerin Buika gefunden, die auf Ihrem Album fast durchgängig zu hören ist?
Da, wo man sich heutzutage eben findet: Im Internet. Es gibt ja leider keine Plattenläden mehr. Ich mochte es so gern, Alben anzufassen, an ihnen zu riechen und mir die Informationen im Booklet durchzulesen. All das fehlt im Netz, ich finde, es sollte sich mal jemand mit genug Geld trauen, eine neue Kette mit Vinylplattenläden aufzuziehen. Bis das passiert, stöbere auch ich jetzt auf der Suche nach neuer und aufregender Musik im Netz. Buika erschien mir nachts um 3 Uhr auf der Bildfläche. Ich war sofort hin und weg von ihrer Stimme, fragte sie, ob sie mitmachen möchte, und sie sagte ja.
Wäre das mit den Läden nichts für Sie? Immerhin besitzen Sie unter dem Namen „Maria Maria“ einige mexikanische Restaurants.
(lacht) Sie bringen mich auf Ideen. Klingt cool. Wenn mir ein geiler Name für die Kette einfällt, lege ich los.
Gibt es einen Grund, warum Sie sich ausgerechnet jetzt auf einem Album afrikanischen Rhythmen und Grooves widmen?
Ich wollte das schon seit sehr, sehr langer Zeit machen. Die Melodien und die Lust am Spiel haben mich immer bei den afrikanischen Musikern begeistert. Diese Songs sind zugleich simpel wie auch komplex, genial und einfach. Afrika ist der Garten Eden der rhythmischen Musik. Mir selbst stecken diese Sounds tief in der DNA.
Sie haben „Africa Speaks“ gemeinsam mit dem Produzenten-Guru Rick Rubin in dessen „Shangri-La“-Studio in Malibu aufgenommen. Sowohl Rubin als auch Sie sind sehr spirituelle, auch etwas kauzige Charaktere. Wie haben Sie sich verstanden?
Eine wichtige Frage. Unsere Arbeit fühlte sich an wie eine lange, intensive Taufe. Wir haben 49 Songs in zehn Tagen geschöpft und entwickelt, was eigentlich fast unmöglich ist. Zwischen uns bestand eine ganz neue Form der Energie. Es war meine Idee, mit Rick zu arbeiten, und ich wurde nicht enttäuscht. Die Stimmung im Studio war voller Vertrauen und Geilheit. Geilheit auf Musik.
Verzeihung, wie geil macht es Sie selbst, wenn Sie Gitarre spielen?
Ich empfinde die Frage nicht als anstößig, sondern als sehr relevant. Schauen Sie sich doch nur die Form einer Gitarre an. Eine Melodie zu spielen, das ist für mich so schön wie Schokolade oder ein Zungenkuss.
Ist Gitarrenmusik eine Form von Sex?
Ja, Musik und Sex sind für mich so eng miteinander verbunden, dass sie praktisch eine untrennbare Einheit bilden. Beides erzeugt ein herrliches, ja göttliches Gefühl in meiner Seele. Wenn du nicht atmest oder nicht trinkst, dann stirbst du. Und wenn du keine Romantik oder Liebe hast, dann stirbst du auch. Die Menschen brauchen Berührungen, Intimität, sondern werden sie mit der Zeit zu einem Kaktus und es wird schwer, sich ihnen noch zu nähern. Sex ist für mich aber ein weitergefasster Begriff, er beinhaltet auch das Festhalten, das In-den-Arm-nehmen, die Emotion. Da sind wir wieder bei den Parallelen: Musik ohne Gefühle ist nur ein Geräusch.
Wie erotisch ist für Sie der Sound einer Gitarre?
Super sexy und stimulierend. Flamenco, Blues, Jimi Hendrix – alle diese Musik ist äußerst erregend.
Ihre Frau Cindy Blackman Santana, mit der Sie seit neun Jahren verheiratet sind, spielt in Ihrer Band Schlagzeug. Macht Sie Ihr Spiel an?
Cindy spielt irre erotisch und heiß. Meine Frau auf der Bühne zu erleben, ist eine Explosion der Emotionen.
Wie ist es, nicht nur das Leben zu teilen, sondern auch die Bühne?
Für Cindy und mich sind die Konzerte eine heilige Form des Beischlafs. Sex ist definitiv ein Teil unseres Spiels. Wir kommen zusammen zum Höhepunkt, und das Publikum macht mit und kommt auch. Nicht ohne Grund fangen viele Lieder gemächlich an und steigern sich während des Spiels zu einem Vulkan.
Haben Sie die Höhepunkte auf „Africa Speaks“ gezählt?
Es sind zu viele, um sie zu zählen. So im Schnitt kommen wir auf etwa sieben Orgasmen pro Song (lacht).
Carlos, Cannabis ist ja seit einiger Zeit legal in Kalifornien.
Ich befürworte die Freigabe von Cannabisprodukten. Alle Stimulanzien, die in Labors hergestellt werden, sind schädlich, diese Opioide zum Beispiel sind ein fürchterliches Teufelszeug. Aber alles, was Mutter Natur für dich bereithält, ist gut. Der Mensch macht Drogen, die Natur macht Medizin.
Nehmen Sie diese Medizin zu sich?
Nicht mehr so wie früher. Aber hin und wieder gönne ich mir ein kleines Stückchen Haschisch und lege es mir unter die Zunge.