Essen. Der Tod des Dichters, Politikers und Priesters Ernesto Cardenal mit 95 Jahren kann seinem Werk nichts anhaben: Es hat ihn unsterblich gemacht.
Dichter, Priester, Revolutionär – nicht einmal in Lateinamerika, wo Revolutionäre fast immer General oder Theologe sind, gibt es noch Menschen, die diese Dreifaltigkeit verkörpern. Ernesto Cardenal tat es ohnehin auf eine singuläre, charismatische Weise. Sein politisches Engagement, nicht nur als Kultur- und Bildungsminister der sandinistischen Revolution in Nicaragua, der ab 1979 eine bis dahin nur in Kuba erlebte Alphabetisierungs-Kampagne ins Werk setzte, sondern auch als unbestechlicher, scharfer Kritiker seiner zu Raffkes und Diktatoren gewandelten Mit-Revolutionäre wie Daniel Ortega, die er einen „Stalinisten-Haufen“ nannte.
„Für mich“, sagte Cardenal „bedeutet Revolution tatkräftige christliche Nächstenliebe, verwirklichte Barmherzigkeit.“ Sein aus der Unterstützung für die Revolution in Nicaragua abgeleitetes Diktum, Solidarität sei die Zärtlichkeit der Völker, wurde zum geflügelten Wort. Kommunismus hat Cardenal stets als eine Spielart des Christentums begriffen. Seine katholische Kirche aber sah das anders und suspendierte den Jesuiten auf Betreiben Papst Johannes Paul II. 1985 vom Priesteramt. Und machte erst vor einem Jahr ihren Frieden mit Cardenal, als Papst Franziskus die Suspendierung wieder aufheben ließ.
Bewaffnet mit Phantasie und Hoffnung
Hinter all dem Engagement aber konnte der große Poet, der Cardenal zuallererst war, nie verschwinden -bewaffnet mit nichts als Phantasie und Hoffnung und einem schier unerschütterlichen Glauben an die Liebe, wofür ihm der deutsche Buchhandeln bereits 1980 seinen renommierten Friedenspreis verlieh. In den letzten Jahrzehnten tourte der Mann, der mit seinen „Psalmen“ 1969 eine Art Evangelium der Befreiungstheologie geschrieben hatte, schier unermüdlich um die Welt – und war ein ums andere Mal auch in Deutschland zu Gast, wo der Wuppertaler Peter Hammer Verlag und dessen erster Chef Johannes Rau die deutschen Ausgaben seiner Bücher verlegten; 2012 erschien dort die zweibändige Gesamtausgabe der poetischen Werke „Aus Sternen geboren“.
Sein Hauptwerk aber war und bleiben die „Cántico Cósmico“, die „Gesänge des Universums“, aus denen er fast immer rezitierte, wenn er in den letzten drei Jahrzehnten irgendwo mit seiner „Grupo Sal“ auftrat. Meist im weißen Bauernhemd, ausgebeulten Jeans und mit der schwarzen Baskenmütze über der schlohweißen Haarmähne. Diese mehr als 500 Seiten umfassenden „Gesänge“ sind der ebenso vermessene wie nur in der Poesie mögliche Versuch, Gaia-Theorie, Elektronen und Evolution, Wissenschaft, Glauben und Poesie in einem Werk zu versöhnen. Eingeschlossen der Verdacht, bei Schimpansen könnte es sich um Menschen handeln, die sich aus lauter Angst vor der Zukunft zurückentwickelt hätten. Vor Klischees wie dem Havanna-Rauch über der Wall-Street war Cardenal nicht gefeit, aber sie bildeten nur die Kehrseite seiner Unbeugsamkeit.
Wie ein moderner Don Quichotte - Dietmar Schönherrs Stiftung
Das enthusiastische Festhalten an Gerechtigkeit in Gemeinschaft, an der Liebe als Erden-Macht ließ Ernesto Cardenal bei seinen Auftritten denn auch immer mehr wie einen modernen Don Quichotte wirken. Doch er hat, auch in Nicaragua, Reservate der Menschlichkeit geschaffen, Kommunen wie die Gemeinde auf der Solentiname-Insel im Großen See, wo auch seine „Gesänge des Universums“ entstanden, oder jenes Haus der Drei Welten, das von Dietmar Schönherrs Stiftung unterstützt wird.
Zuletzt lebte Ernesto Cardenal, der im Januar 95 Jahre alt geworden war, in der Hauptstadt Managua, wo am Sonntagabend sein Herz zu schlagen aufhörte. Man mag kaum sagen, er sei gestorben, denn er war ja längst unsterblich.