Mülheim. Frankreich im Jahr 2022, ein muslimischer Staat: Das Theater an der Ruhr serviert Houellebecqs „Unterwerfung“ als literarisches Spiegelkabinett.

Fünf Jahre ist es her, dass Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ die Islamisierung Europas voraussagte und sich die Literaturwelt mit der Realität polizeilich geschützter Autorenlesungen konfrontiert sah. Zu Millionen Lesern gesellten sich alsbald tausende Theaterzuschauer, die Edgar Selge in der Rolle des François bejubelten; vor zwei Jahren war Selge (diesmal umgeben von weiteren Akteuren) in dieser Rolle im Fernsehen zu sehen. Was könnte also eine weitere Bühnenfassung uns über diese skandalöse „Unterwerfung“ erzählen, was wir nicht schon wüssten?

Am Mülheimer Theater an der Ruhr legen Regisseur Philipp Preuss und Dramaturg Helmut Schäfer das Fundament der Houellebecq’schen Romansatire frei, indem sie seinen Protagonisten François an einen Tisch setzen mit Jean Floressas Des Esseintes. Um ihn dreht sich Joris-Karl Huysmans 1884 erschienener Roman „Gegen den Strich“. Was die beiden Herren an den jeweiligen Kopfenden der Tafel eint, ist ihr Überdruss: Sie scheinen erdrückt vom Überfluss, von der Dekadenz der Gesellschaft, von der Erkenntnis, wie sinnlos dieses ganze Gewese des Daseins ist.

Eine großartige Houellebecq-Parodie der Schauspielerin Petra von der Beek

Huysmans spielt eine wichtige Rolle in „Unterwerfung“, der Literaturwissenschaftler Francois schrieb seine Dissertation über ihn; dass Huysmans sich für den Katholizismus (ebenso wie für den Okkultismus und Satanismus) interessierte und seinen letzten Lebensabschnitt im Kloster verbrachte, schafft gewissermaßen die Grundlagen für François’ (mutmaßliche) Entscheidung, sein Heil in einer Religion zu suchen und sich dem Islamismus tatsächlich zu „unterwerfen“.

Die eher komplizierten literarischen Erklärungen machen wohl bereits deutlich, dass dies kein einfacher Theaterabend ist; zumal die Regie die beiden Protagonisten und ihre jeweiligen Autoren auf der Bühne zu einer Person verschmelzen lässt. Dies allerdings beschert dem Publikum, das an der langen Tafel zwischen den Schauspielern Platz nehmen darf, eine großartige Houellebecq-Parodie der Schauspielerin Petra von der Beek, die im (etwas zu sauberen) grünen Parka, mit strähniger Frisur und einem beständigen Blinzeln diese ganze geistige Obdachlosigkeit eines Intellektuellen in der Konsumgesellschaft trefflich einfängt.

Kellner Rupert J. Seidl serviert den Gästen schön ironisch ein saures Gürkchen

Ihr Gegenüber ist Felix Römer als Des Esseintes, lärmend und tobend mit großer Geste und großer Robe. Beide flirten auf je eigene Weise mit den Verführungen der Welt – da windet sich Des Esseintes in der Ekstase der Selbstbefriedung auf dem Tisch, schwärmt François von den oralen Künsten seiner Geliebten Myriam (Nina Wolf). Dazu serviert Kellner Rupert J. Seidl den Gästen schön ironisch ein saures Gürkchen, wie überhaupt die Gänge hübsch passen – da gibt es ein Salatblatt zur Geschichte einer mit Gold und Edelsteinen verzierten Schildkröte, einen Kartoffelchip zu Des Esseintes’ Klage über den Niedergang des Glaubens und über Hostien, die nur noch aus Kartoffelmehl bestehen.

Etwas kurz kommt in all dem sexuell aufgeheizten Trubel, der wohl vor allem das Patriarchat vorführen soll, die politische Komponente der „Unterwerfung“: Wie Frankreich sich im Jahr 2022 aus Kalkül und aus Versehen in mehreren Wahlgängen einen muslimischen Ministerpräsidenten herbei wählt, nur um den Kandidaten der Front National zu verhindern – eine Politpanne, die nach Thüringen so unglaublich auch nicht mehr scheint.

In Houellebecqs grünem Parka: Petra von der Beek.
In Houellebecqs grünem Parka: Petra von der Beek. © Handout | Fersterer

Am Ende wird François vor allem die Aussicht auf mehrere Ehefrauen vom islamischen Glauben überzeugen, während am Tisch ein riesiger goldner Peniskopf Platz nimmt. Es kam Houellebecq nie darauf an, den Islam vorzuführen, das macht dieser Abend deutlich (tatsächlich sollte François in der Ursprungsfassung des Romans wie sein Vorbild Huysmans zum Katholizismus konvertieren, nur schien der in Frankreich des Jahres 2022 kaum mehr stark genug).

Es geht um die radikale Hin- und Rückwendung zu einer glaubensgesteuerten Gesellschaftsform, die das Rad der Geschichte ebenso zurückdrehen will wie die Gleichstellung von Mann und Frau oder die Idee sozialer Gerechtigkeit. Wenn Des Esseintes und François schließlich die Rollen tauschen, Parka gegen Robe, dann macht dieser Abend zugleich deutlich, dass das Mäntelchen radikaler Ideen vielgestaltig sein kann. Ein Theaterbesuch vom Sternekoch, bestens geeignet für Houellebecq-Gourmets – und solche, die es werden möchten.

Zeiten, Preise: www.theater-an-der-ruhr.de.