Essen. Dirk Kurbjuweits „Haarmann“ ist kaum ein Kriminal-, vielmehr ein viel spiegelnder historischer Roman über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

Ein Faszinosum des Grauens bleibt Fritz Haarmann offenbar auch fast 100 Jahre nach seiner Hinrichtung wegen 24-fachen Mordes. Romuald Karmakar hat in seinem „Totmacher“- Film mit Götz George aus der Befragung Haarmanns durch einen Psychologen ein seelentiefes Bild der Zeit zwischen den Weltkriegen entwickelt. Ein Vierteljahrhundert später tritt nun Dirk Kurbjuweit an, der Leiter des „Spiegel“-Hauptstadtbüros, der auch schon etliche Romane verfasst hat (zuletzt „Die Freiheit der Emma Herwegh“), mit einem Roman rund um Haarmann an.

Dass der Untertitel einen „Kriminalroman“ ankündigt, darf man getrost unter der Rubrik „Bestseller-Marketing“ verbuchen. Ja, Kurbjuweit schildert die verschleppte, zögerliche Aufklärung der Mordserie aus der Sicht des Ermittlers Robert Lahnstein, dessen Biografie allein schon viel von dem vermittelt, worum es Kurbjuweit eigentlich geht: Die Schilderung einer extremen Zeit an einem extremen Fall.

Aus Bochum nach Hannover

Lahnstein, der in Hannover ermittelt, stammt eigentlich aus dem Ruhrgebiet, aus Bochum. Er war im Weltkrieg ein mäßig erfolgreicher Flieger (und blockt Nachfragen nach seinen Abschüssen mit dem Schlagwort Verdun ab), wurde Polizist im heimischen Bochum, wo bei einem Schusswechsel zwischen Soldaten der französischen Besatzungsarmee und mutmaßlichen Saboteuren seine Mutter ums Leben kam. Lahnstein, der bei den Franzosen immer wieder nachfragt, wer denn nun für den Tod seiner Mutter verantwortlich sei, wird des Ruhrgebiets verwiesen (in das er freilich zurückkehrt, um mit seinem verwitweten Vater Weihnachten zu feiern) – weshalb ihn der Bochumer Polizeipräsident seinem Kollegen in Hannover empfiehlt.

Dort fasst Lahnstein schon früh einen Verdacht gegen Haarmann. Aber er stößt im Polizeiapparat von Hannover auf ungeahnte Widerstände. Haarmann verschafft der Polizei als Spitzel immer wieder Ermittlungserfolge im Milieu aus Armut, Kriminalität und Rotlicht; und am Ende sorgt auch die zeitübliche Schwulenfeindlichkeit dafür, dass die Ermittlungen nur zögerlich vonstatten gehen.

Hitler-Putsch in München - und Gustav Noske als Oberpräsident

Im Hintergrund wird der Putschversuch der Nazis in München vor Gericht mehr entschuldigt als verurteilt – und Lahnstein wird immer wieder mit dem auf den Oberpräsidenten-Posten abgeschobenen SPD-Genossen Gustav Noske konfrontiert, der die Arbeiter- und Soldatenaufstände nach Kriegsende mit Hilfe der reaktionären Freikorps niederschlagen ließ und letztlich auch für die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verantwortlich war.

Die Brutalisierung der Soldaten durch den Krieg wäre die einfachste Erklärung für die entfesselte Brutalität und Gefühlskälte, mit der Fritz Haarmann seine Opfer tötete und zerlegte. Aber: Haarmann war gar nicht im Krieg. So skizziert Kurbjuweit eine durch und durch verunsicherte Gesellschaft, die elementare Nöte überstanden, aber längst noch nicht Vertrauen in das neue politische System gefasst hat – unter anderem, weil reaktionäre Kräfte genau das untergraben. Bis auf einige Anachronismen (das Wort „Serienmörder“ gab es zeitgenössisch noch nicht, und auch keine „bundesweiten“ Aufrufe) entsteht ein bis in die Gerüche, Kleidung und Speisegewohnheiten hinein sehr plastisches Bild der Zeit. Freilich mit ein bisschen mehr Details der Morde als für ein Zeitporträt nötig gewesen wäre.

Dirk Kurbjuweit: Haarmann. Kriminalroman. Penguin, 318 S., 22 €.