Essen. Hat das Ruhrgebiet nach dem Ende von Kohle und Stahl noch eine Identität? Ist es wirklich eine Stadt? Wir fragten Prof. Dr. Christoph Zöpel.
Ohne Not redet der ehemalige SPD-Landesvorsitzende nicht über seine Partei – und er sagt nur „Ruhr“, weil ihm das „-gebiet“ zu sehr von oben bestimmt klingt; „Revier“ oder „Pott“ mag er schon gar nicht mehr hören. Christoph Zöpel, der gemeinsam mit Karl Ganser die Internationale Bauausstellung Emscherpark auf den Weg brachte und so den Strukturwandel entscheidend beeinflusste, denkt viel über „Ruhr“ nach – und hat dezidierte Meinungen dazu. Deshalb bat ihn die Redaktion zum Interview.
Herr Zöpel, hat das Ruhrgebiet ohne Kohle und Stahl denn noch eine Identität?
Christoph Zöpel: Die großen Städte des Ruhrgebiets hatten eine europaweit bedeutende Identität Jahrhunderte vor Kohle und Stahl. Ruhr kann eine neue Identität dadurch schaffen, dass es der Welt mit seinen vielen Hochschulen Innovationen anbietet, die damit zu tun haben, dass Kohle und Stahl, soweit sie CO2-Emissionen verursachen, überwunden werden. Es wäre nicht gut, wenn hier kein Stahl mehr produziert würde, auch um zu vermitteln, wie Thyssenkrupp das anvisiert, dass Stahl auch CO2-frei mit Hilfe von Wasserstoff hergestellt werden kann. Im Augenblick habe ich das Gefühl, dass der Inder Mittal das eher begreift als Thyssenkrupp, aber es wäre eine Chance, wenn sie das gemeinsam täten. Auch um zu sagen: Macht das doch bitte auch in Indien so. Wenn es global mit der CO2-Reduktion klappen soll, ist Indien ein entscheidendes Land.
Reicht das als Identität?
Jede Identität hat ihre Geschichte, neue Identitäten werden nicht geschaffen, sie entstehen. Es gab die Identität vor Kohle und Stahl, jetzt wird – aus guten Gründen – aus Kohle und Stahl ausgestiegen, und Ruhr man kann der Welt vermitteln, wie das geht.
Das wäre dann eine grüne Identität.
Wenn Sie Kohle mit „schwarz“ gleichsetzen: Tatsächlich. Ich würde eine auf Dienstleistungen und Wissen beruhende Gesellschaft, die kapiert, dass man nicht sinnloser Weise CO2 einsetzt, aber nicht als „grün“ bezeichnen. Die Zukunft liegt darin: In einer Gesellschaft, die auf Dienstleistung und Wissenschaft basiert, kann Ruhr eine neue Identität gewinnen. Mit Zahlen ist das leicht belegbar: 80 Prozent der Beschäftigten in Ruhr arbeiten im Dienstleistungssektor; fünf Millionen Menschen, die in dieser urbanen Agglomeration leben, können eine bedeutende Rolle in Europa und teilweise auch in der Welt spielen.
Und was ist mit der Identität vor Kohle und Stahl?
Der Rheinische Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, dessen Vorsitzender ich zufällig geworden bin, plant mit den Dortmunder Professoren Sonne und Welzel für Mai eine Konferenz über die Bedeutung des Mittelalters als Ressource für die Zukunft von Ruhr. Dazu ein Faktum: Im Jahr 1152 hat Friedrich Barbarossa in Dortmund einen Reichstag abgehalten hat, hat und er einer Gemeinde in Süddeutschland namens „München“ Marktrechte verliehen. Dortmund, Duisburg und Essen waren im Mittelalter bedeutende Städte im europäischen Rahmen, München und Berlin gab es gar nicht. Generell waren alle heute bedeutenden Städte Europas bereits vor der Montan-Industrialisierung bedeutend. Nämlich als Dienstleistungs-Städte, entweder als Hauptstädte oder als Hafenstädte. Die Städte in Ruhr hatten nicht die Chance, wirklich bedeutend zu werden – weil die Montanindustrie sie an städtebaulicher Planung gehindert hat und eine Infrastruktur entstehen ließ, die der betriebswirtschaftlichen Rationalität des Bergbaus und der Stahlindustrie gefolgt ist.
Bitte noch einmal zum Mitschreiben: Die Montanindustrie hat in der Neuzeit die Stadtentwicklung des Ruhrgebiets verhindert?
Ja. Es hat Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Reihe von Gründerzeit-Bauten den Versuch gegeben, das voranzutreiben, aber von diesen Bauten sind nach dem Zweiten Weltkrieg 90 Prozent nicht mehr da. Das städtebauliche Menetekel war der Abriss des gotischen Rathauses in Dortmund, des ältesten Rathauses von Westfalen. Das haben nicht die Bomben geschafft, sondern ein Beschluss des Stadtrats.
Sie haben ja schon 2005 das Buch „Weltstadt Ruhr“ veröffentlicht – sind wir diesem Ziel eigentlich näher gekommen?
Nun, ich würde den Titel heute zurückhaltender formulieren. Ich gebe auch zu: Ich habe zu spät gesagt, dass ein Vergleich mit London und Paris Unsinn ist, weil diese Städte dreimal so viele Einwohner haben. Aber danach gibt es in Europa nur noch Städte mit vier oder fünf Millionen Einwohnern. Wenn Madrid, Barcelona, Mailand, Rom, Birmingham Weltbedeutung haben, dann muss es Ziel von Ruhr sein, dieselbe Bedeutung zu haben. Ruhr ist größer als Berlin! Ich bin weiterhin der Meinung, dass diese fünf Millionen Menschen, bei rund 1000 pro Quadratmeter, siedlungsräumlich unstreitig als eine Stadt zu sehen sind.
Die Frage war aber, ob wir darin vorangekommen sind.
Mindestens im Bereich der Hochschulen. Die Ruhr-Universität gilt inzwischen als Spitzenreiter in Deutschland für Informationssicherheit. Und auch in der Gesundheitswirtschaft ist Ruhr führend.
Wie ist es mit dem Image?
Image hat immer zwei Seiten. Eins steht fest: Image erwirbt man, wenn andere nicht umhin können, positiv zu reden. Bisher gibt es außerhalb von Ruhr in Deutschland kein Interesse, positiv über Ruhr zu reden. Das ist das Entscheidende.
Warum?
Konkurrenz! Würde Berlin zugeben, Ruhr ist größer als Berlin, erwüchse ihm Konkurrenz. Und dass es die Aufgabe der Bundesminister der CSU ist, alles dafür zu tun, dass München die populärste Stadt Deutschlands bleibt, ist nachvollziehbar. Aus der Sicht von Ruhr hingegen muss darf man sagen: Das ist schlimm!
Und die zweite Seite?
Dass wir in Ruhr selber weiter an Begriffen wie Pott oder Revier festhalten. An attraktiver Ernährung orientierte Menschen würden nicht vom „Pott“ reden, das darin etwas Besonderes gekocht würde! Schlimmer: Manche Repräsentanten in Ruhr beklagen immer die Defizite, statt von Fortschritten zu reden und das ist image-schädlich.
Was vielleicht doch etwas geändert hat am Image von Ruhr war die Kulturhauptstadt 2010. Wie blicken sie darauf zurück?
Das Wichtigste, das Ausschlaggebende daran war: Die Entscheidung, dass Ruhr Kulturhauptstadt wurde, hat ja nicht Ruhr selbst getroffen; Institutionen auf deutscher und europäischer Ebene haben entschieden: Da ist was in Ruhr. Die Eröffnungsveranstaltung war sehr problematisch: In größerer Zahl Künstler auftreten zu lassen, die sagten ich bin zwar hier geboren, lebe aber woanders, etwa in London oder München. So etwas schadet dem Image. Oder darauf hinzuweisen, die kulinarische Besonderheit sei die Currywurst, obwohl das auch Berlin sagen würde.
Und Uwe Timm die Erfindung der Currywurst in Hamburg angesiedelt hat. Die Kulturhauptstadt hat das industriekulturelle Erbe sehr stark in den Vordergrund gestellt. Mittlerweile werben aber auch schon Berlin und Sachsen mit ihrer Industriekultur – und es gibt erste Stimmen in Ruhr, die davor warnen, sich allein auf die Industriekultur zu reduzieren.
Ich habe ja schon betont, dass die großen Städte in Ruhr schon im Mittelalter bedeutend waren. Es gibt in Dortmund mindestens sechs gotische Kirchen, das Essener Münster und die Werdener Kirche sind baukulturhistorisch bedeutend – während der Kulturhauptstadt sind 40 Burgen herausgestellt worden. Es ergibt Sinn, Industriekultur zu zeigen als Monumente einer vergangenen Zeit. Aber man muss damit verbinden, dass sie einer Epoche mit Problemen entstammen und dass es davor anderes gab wie das Mittelalter, in dem Ruhr dokumentierbar bedeutend war. Allerdings steht fest: einen so großen zusammenhängenden Bereich an Industriekultur, in einem Raum mit fünf Millionen Einwohnern, gibt es weltweit kein zweites Mal. Dabei muss man sich auf die markanten Monumente konzentrieren. Und zum Weltkulturerbe Ruhr gehört auch die Tatsache: Für die Montan-Industrie ist ein Fluss versaut worden – und jetzt ist er wieder naturlandschaftlich rückgestaltet: die Emscher.
Wie es mit der emotionalen Seite der Industriekultur? Das Bewusstsein: „Wir schaffen die Energie für ganz Deutschland“ ist doch ein sehr starkes, gefühlsbesetztes gewesen.
Bei älteren Menschen sicher. Aber in Ruhr lebt inzwischeneine neue Generation, die damit nichts mehr zu tun hat.
Könnte man es denn schaffen, die Zukunft mit dem Mittelalter zu verbinden?
Das lässt sich nicht organisieren. Aber ich behaupte: In zwanzig Jahren werden hier Menschen herumlaufen, die sagen: Das fantastische Wissen über Informationssicherheit, das ich an der Ruhr-Universität gelernt habe, das hat mich geprägt. Dann ist es ist zwingend erforderlich, dass auch gepflegt wird, was Betroffene der Montanindustrie an Leid erfahren haben. Die Redensart „Er ist weg vom Fenster“ bedeutet ja: Silikosekranke Bergleute lagen irgendwann nicht mehr im Fenster, um nach Luft zu ringen. Das kann dann auch ins Mittelalter führen: Ich habe dem einstigen Kulturminister Vesper widersprochen, der die Industriekultur wegen des Arbeiterleids nicht unter Denkmalschutz stellen wollte – dann dürfte man auch nicht den Kölner Dom unter Denkmalschutz stellen, der aber ist Weltkulturerbe wie Zollverein in Essen, benachbart dem Essener Münster.
Stefan Laurin hat in seiner Streitschrift „Versemmelt“ Vieles, was nicht klappt im Ruhrgebiet, am Regionalverband Ruhr festgemacht. Teilen Sie diese Ansicht?
Fest steht: Der RVR hat bis heute nicht die Rechtsstruktur, die es ihm ermöglichen würde, besser zu sein. Heißt? Er müsste viel eindeutiger die Kompetenz haben, Ruhr nach außen zu vertreten. Er müsste stärker eine Koordinierungsfunktion im kulturellen Bereich bekommen.
Und was ist mit der Regionalplanung?
Da hat der RVR sich schrecklich übernommen. Weil er glaubte, er müsse alles ergründen. Wenn der RVR den Regionalplan so aufgestellt hätte, wie er sonst erstellt wird in den Regierungsbezirken Münster, Arnsberg, Düsseldorf, dann hätte er ihn gut hingekriegt. Er wollte aber zu jedem hier denkbaren Problem erst forschen und breitest kommunizieren, und damit konnte er nicht fertig werden. Aber jeder generelle Vorwurf gegen den RVR ist unbegründet, weil er niemals die Kompetenzen hatte, die er brauchte, und sie auch nicht bekommen sollte. Auch Johannes Rau hat aktiv viel getan, damit Ruhr nicht zu einer Stadt wurde. Weil er zu Recht erkannte, dass so etwas politisch eine ernsthafte Konkurrenz zur nordrhein-westfälischen Landesregierung würde. Die IBA Emscherpark war die Antwort darauf, dass der RVR gar nicht die Kompetenz hatte, den Raum von Ruhr integriert zu gestalten. Bislang hatte der RVR gar nicht die Chance, mehr zu erreichen, als er erreicht hat. Aber der RVR ist als größter Waldbesitzer Deutschlands dafür verantwortlich, dass es hier so grün ist.
Die IBA Emscherpark, die Kulturhauptstadt, die kommende Internationale Gartenbauausstellung. Was halten Sie denn von den Olympischen Spielen als nächstes Großprojekt im Revier?
Mich begeistern Olympische Spiele grundsätzlich nicht, das liegt auch an der Kommerzialisierung und Politisierung von Sport. Der zweite Punkt ist: Der Hauptgrund, warum der aktuelle Ministerpräsident die Olympischen Spiele Rhein-Ruhr will ist, dass er die Reiter-Spiele in Aachen haben möchte. Dennoch, wenn es gelänge, unter allfälligen Verbesserung von Sportstätten hier Olympische Spiele zu haben, würde es nicht schaden. Dabei würde ich eine auf Ruhr konzentrierte Olympiade bevorzugen.
Wäre das nicht auch eine Chance, das katastrophale Netz von Bussen und Bahnen hier entscheidend zu verbessern?
Der Zusammenhang würde nicht eintreten, wenn die ÖPNV-Verbesserung nicht ohnehin käme. Zwischen Aachen und Dortmund ist dabei öffentlicher Personennahverkehr auch keine Notwendigkeit.
Und wo sehen Sie Ruhr dann im Jahr 2030?
Ruhr wird auf jeden Fall einer der zehn bedeutendsten Wissenschaftsstandorte Europas sein. Das halte ich für die Hauptprognose. Und ich hoffe, bis dahin werden die Parteien und auch die Gewerkschaften einsehen, dass Wissenschaft und Dienstleistungen auch im Mittelpunkt der Beschäftigungspolitik stehen müssen. Dass die Montanindustrie weg ist, hat ja viele Arbeitsplätze für Frauen entstehen lassen. Im Englischen heißt „Industry“ schlichtweg „rationalisierte Produktion“; wenn in Ruhr „Industrie“ gesagt wird, meint man Kohle und Stahl. Davon muss Ruhr erst einmal weg, und dann kann – Wirtschaftssektoren übergreifend – auch industrialisiert werden.