Essen. Erneut blickt Michael Kumpfmüller auf eine geschundene Schriftstellerseele: In „Ach, Virginia“ beschreibt er die letzten Tage von Virginia Woolf.
Im März 1941 fliegen deutsche Bomber über das kleine Cottage in Südengland, das Virginia Woolf mit ihrem Mann Leonard teilt. Während er unermüdlich und sinnlos im Garten herumarbeitet und wöchentlich nach London reist, kreist sie ebenso unermüdlich um sich selbst: um den verblassenden Ruhm, ihre Schlaflosigkeit, ihre stimmgewaltigen Wahnvorstellungen. Wie ein letzter großer Geliebter zieht der nahe Fluss sie in seinen Bann: „Sie möchte dem Fluss eine schöne Geliebte sein, jung und geschmeidig; sie möchte, dass er sie sieht und birgt…“.
Wir wissen nicht, was die 59 Jahre alte Schriftstellerin in den Tagen vor ihrem Freitod am 28. März 1941 tatsächlich gedacht, gesagt, getan hat; erhalten ist der Nachwelt allein der Abschiedsbrief an Leonard: „Alles, außer der Gewissheit Deiner Güte, hat mich verlassen. Ich kann Dein Leben nicht länger ruinieren.“
Zweite Annäherung an eine geschundene Schriftstellerseele
Diesen spekulativen Raum nutzt und kleidet Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman aus. Nach dem großen Erfolg mit einem Endzeitroman über Franz Kafka („Die Herrlichkeit des Lebens“) ist dies nun die zweite Annäherung an eine geschundene Schriftstellerseele. Kumpfmüller beginnt mit Virginia Woolfs erstem Gang in den Fluss, noch ohne Steine in der Manteltasche. Der erfolglosen, aber pitschnassen Noch-Nicht-Selbstmörderin schenkt er strömenden Regen, der ihre Tat verschleiert, als ihr Ehemann ihr daheim entgegeneilt: „Niemanden möchte sie jetzt weniger sehen als ihn.“
Durch diesen Auftakt, schon an der sprudelnden Quelle der ersten Romanseiten, ist klar, dass das Ende erneut ans Flussufer führt, trotzdem hoffen wir fortan und über gut 200 Seiten auf einen alternativen Schluss. Dass es diesen nicht geben kann, begründet Kumpfmüller in diesem fiktiven Tagebuch der berühmten Schriftstellerin nicht nur in einer Art medizinischer Fallbeschreibung, sondern auch in Zeitschleifen und Rückbesinnungen – die Liebesgeschichte mit Vita Sackville-West, „Mrs Dalloway“ und ihr reales Vorbild, „Orlando“.
Virginia Woolfs Werk als Spiegel ihres Seelenlebens
Der Sog der Unausweichlichkeit zieht tatsächlich in seinen Bann. Schon in seinem Roman „Durst“ hat Kumpfmüller sein Talent bewiesen, sich in psychische Ausnahmezustände hineinzuschreiben: Damals ging es um eine durch die Welt taumelnde Frau, die ihre eingeschlossenen Kinder durch das eigene Gefangensein im Jetzt ganz vergessen hatte. Nur ist nun der Geist, den Kumpfmüller hier beschwört, eben ein sehr großer – und das Werk Virginia Woolfs selbst bereits ein Spiegel ihres Seelenlebens.
Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia. Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, 22 €