Washington/Los Angeles. Große Überraschung: Erstmals gewinnt mit „Parasite“ bei der Oscar-Verleihung 2020 eine Produktion aus dem Ausland den Preis für den besten Film.
Der Lautstärke-Pegel im Dolby Theatre von Los Angeles war nicht zufällig schon überdurchschnittlich hoch, als Sonntagabend die Oscars für das beste Original-Drehbuch, den besten internationalen Film und die beste Regie an die Macher von „Parasite“ überreicht wurden. Der südkoreanische Kapitalismusknacker von Regisseur Bong Joon-ho hatte die Herzen vieler Kino-Fans im vergangenen Jahr wegen seiner Originalität und präzisen Gesellschaftskritik im Sturm genommen. Der vielleicht cleverste, lustigste und zugleich traurigste Film im Wettbewerb sollte wenige Minuten später (noch mehr) Geschichte schreiben.
Nach drei Auszeichnungen heimste das Werk, das sich um das Leben zweier ungleicher Familien im Moloch Seoul dreht, gegen alle Traditionen auch in der Königs-Kategorie „Bester Film“ die kleine Gold-Statue ein. Und die Euphorie im Saal kannte keine Grenzen mehr. Zum ersten Mal hat mit „Parasite” ein außerhalb Amerikas gedachter und gemachter Film den begehrtesten Oscar gewonnen. Der zum Publikumsliebling avancierte Bong Joon-ho stellte seine Arbeit mit demütiger Geste in die Tradition großer US-Kollegen wie Martin Scorsese und Quentin Tarantino, die beide leer ausgingen. „Ich werde bis zum nächsten Morgen trinken”, sagte Bong mit Glückstränen in den Augen. Sahnehäubchen auf der Torte: Mit vier Spitzen-Oscars zog Bong mit einem Hollywood-Übervater gleich: Walt Disney.
„Parasite” domestiziert das Wirtstier Hollywood
Die Entscheidung kommt einer Revolution gleich: 91 Jahre lang hatte das Auslandskino in der wichtigsten Disziplin keine Chance. Obwohl immer wieder etwa mit Roberto Benignis „Das Leben ist schön” (1998) oder Alfonso Cuaróns „Roma” (2018) Meisterwerke im Rennen waren. Dass „Parasite” das größere Wirtstier Hollywood so eindrucksvoll domestizieren konnte und „1917” oder die Mafia-Saga „The Irishman” verdrängte, geht auf zwei Faktoren zurück: Der hier hinreißend charmant dargebotene Klassenkampf zwischen Habenichtsen und gesellschaftlich tauben Alleshabern steht für das globale Gegenwarts-Phänomen der Schere zwischen Arm und Reich. Zum anderen hat die Oscar-Jury in den vergangenen vier Jahren eine Frischzellenkur an Internationalität bekommen. 40 Prozent der neuen Mitglieder sind Ausländer, das verändert den Blick.
Die übrigen Top-Preise gingen für die beste männliche Hauptrolle an Joaquin Phoenix (in „Joker”) und für die beste weibliche Hauptrolle an Renée Zellweger für ihre Interpretation von Judy Garland in „Judy” – ebenso verdient wie erwartbar. Bemerkenswert fiel die Dankesrede (abseits sozialer Themen und der Sorge um die Zukunft des Planeten) von „Bösewicht” Phoenix aus, die ein selten offen stehendes Fenster zur Seele dieses nicht einfachen Mannes zeigte: „Ich war ein Halunke in meinem Leben. Ich war selbstsüchtig. Es war schwer mit mir zu arbeiten. Ich bin dankbar dafür, dass so viele hier in diesem Saal mir eine zweite Chance gegeben haben.”
Brad Pitt hält eine politische Dankesrede
Der zuerst verliehene Oscar – bester Nebendarsteller – geriet mit Preisträger Brad Pitt für seinen Part als alternder Stuntman in Tarantinos „Once Upon a Time in Hollywood” auch gleich zum politischsten. Bei seiner Dankesrede machte Pitt geltend, dass ihm mit 45 Sekunden mehr Redezeit zugestanden worden wäre als John Bolton, Ex-Berater von Donald Trump, der von den Republikanern im Amtsenthebungsverfahren zum Schweigen verdonnert wurde. Und sonst?
Billie Eilish hatte eine Gänsehaut erzeugende Version der Bettler-Hymne „Yesterday” parat, und USA-Reisende, die langfristig planen, verdanken Tom Hanks einen taufrischen Tipp: Das neue Museum der Film-Akademie, Hollywoods erster Platz für Filmkunst, wird am 14. Dezember in Los Angeles eröffnet.