Gelsenkirchen. „Momo“, wie sie zum Stuhl fand: Gelsenkirchens neuer Ballett-Chef Giuseppe Spota macht Michael Endes Romanfigur zur Heldin eines Familienstücks.

Vor Beginn schon herrscht Partystimmung. Lachen, Tanzen, Klatschen – mit Händen und mit Stühlen. Diesmal sind es also weiße Plastikstühle, die Giuseppe Spota für seine erste eigene Choreografie als Ballettdirektor am Musiktheater im Revier auf der Bühne im Kleinen Haus platziert. In seiner vorherigen Inszenierung „Tambora“ am Mainzer Staatstheater waren es noch dunkle Schaumstoffmatten, an denen sich das Ensemble abarbeitete. Spota kümmert sich meist selbst um die Bühne seiner Inszenierungen und verwendet gern Requisiten als choreografischen Werkstoff. Die Plastikstühle sind Bühnenmaterial, Instrument, Kostüm und Sparringspartner für die Tänzerinnen und Tänzer. Und praktisch sind sie natürlich auch. Bogenförmig aufeinandergestapelt oder nebeneinander in einer Reihe formiert werden sie zur plastischen Kraterlandschaft einer effizienzgetriebenen Gesellschaft.

Vier Momos – und eine ist ein Mann

Eine, die fantasiegeleitet und seelentröstend gegen solch eine Entwicklung der Zeit kämpft, ist Momo – Michael Endes sympathisch-eigensinnige Kinderbuch-Heldin. Für Giuseppe Spota heißt die Momo unserer Zeit Greta Thunberg. Etwas zu symbolkräftig tragen, werfen, halten die vier Momos auf der Bühne also große, gelbe Regenmäntel. Feinsinnig und präzise wird ein Mantel auch von gleich mehreren Händen und Armen als Marionette bespielt.

Wer den Mantel trägt, bewegt sich gelassen-geschmeidig, lässt Arme und Beine in großen Bögen schwingen. Die anderen – dunkel gekleidet – haben es eilig, ihre Bewegungen sind energisch und abgehackt, Break-Dancer auf Zeitentzug. Michael Ende nannte sie die grauen Herren, sie sind Agenten der Zeitsparkasse, Meister der Beschleunigung. Aber nicht alle Szenen und Choreografien lassen sich so eindeutig lesen und zuordnen. Zum Glück.

Zeitsparer mit energiegeladener Gruppenchoreografie

Spota nutzt das Buch als Vorlage, hält sich an die Grundzüge der Geschichte, übernimmt die Figuren. Aber er denkt auch weiter, entwickelt überraschend atmosphärische Bilder. Da bekommen die effizienten Zeitsparer in ihren energiegeladenen, bisweilen akrobatischen Gruppenchoreografien durchaus

Genevieve O‘Keeffe im Greta-Thunberg-Look.
Genevieve O‘Keeffe im Greta-Thunberg-Look. © Bettina Stoess | Bettina Stoess

sympathische Züge. Das Aufeinandertreffen von Momo und der Schildkröte Kassiopeia wird zu einem zarten Pas de Deux inklusive Panzer-Plastikstuhl. Da entpuppt sich die heilsversprechende Weisheit als ein befreiender Akt der liebevollen Zuwendung. Und einer der insgesamt vier Tänzer und Tänzerinnen von Momo ist männlich, da stellt sich die Frage nach dem Kampf gegen Effizienzzwang zeitgemäß noch einmal anders und neu.

Die Tanzsprache des neuen Ballettchefs in Gelsenkirchen ist eine zeitgenössische. Die Tänzerinnen und Tänzer der MiR Dance Company tragen keine Spitzenschuhe, sie bewegen sich schnell und kraftvoll, werfen lässig ihre Glieder von sich, zucken und pulsieren wie unter Strom. Ihre Bewegungen sind nicht unbedingt innovativ, trotzdem aber mitreißend. Als Getriebene scheinen ihre Körper bisweilen nicht zu gehorchen, dann brechen ihre Bewegungen plötzlich ab, suchen eine neue Richtung. Als jauchzende, lachende Junge formieren sie sich in einer dynamischen Gruppenchoreografie zu entschlossen Demonstrierenden. Tanzen gegen den Leistungsdruck – ein durchaus tröstliches Bild.

Musik von Sigur Rós und Simone Donati

Spota setzt auf kraftvolle Bewegungen und eindrückliche Atmosphäre, bildstark und sinnlich. Musik gibt es entsprechend von der isländischen Band Sigur Rós, deren aufwühlende Klänge allein schon ein Kopfkino auslösen können, und von Company-Mitglied Simone Donati, der extra für „Momo“ sphärische Stücke komponiert hat. Mal mehr ein Rauschen, mal anspornende Beats. Wenn dann noch der Nebel aus den Jacken der grauen Herren steigt oder das strahlende Licht auf Momo scheint, dann ist der poetische Zauber aus Kinderzeiten wieder da.