Mülheim. Schule und Gewalt: Mülheims Theater an der Ruhr zeigt „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ – ein verstörender, aber gelungener Abend.

Minutenlang schildert eine Off-Stimme im Stil eines sachlichen Nachrichtenreporters bis ins grauenhafteste Detail, was die bildgewaltige Choreographie nur dezent andeutet: den Amoklauf eines Gymnasiasten, der am Tag der Abschlussprüfung die ganze Prüfungskommission hinrichtet und nur den Geschichts- und Philosophielehrer Marescalchi verschont. Eine dumpf-dröhnende Soundinstallation verstärkt das Gefühl der Unerträglichkeit noch. Ist es eine Geste der Warnung, der Schuldzuweisung oder im Gegenteil der Aufmunterung, wenn der Schüler schließlich den Zeigefinger auf den Überlebenden richtet, bevor er nicht einfach nur nach draußen geht, sondern – ins Licht!?

Wohl nirgends manifestierten sich die drängenden Fragen nach Bedeutung und Wirkung von Erziehung und Bildung so stark wie am emblematischen Ort Schule. Damit verbunden: die Frage nach Macht und Ohnmacht des Lehrers. Die preisgekrönte Produktion des italienischen Regie-Kollektivs Anagoor, für die mit dem Theater an der Ruhr eine deutschsprachige Fassung entwickelt wurde, ist umso verstörender, als „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ den Zuschauer ratlos, ohne wohlfeile Antworten entlässt.

Vorlage ist der Roman „Il sopravvissuto“ von Antonio Scurati

Den Ansatz bildet der bislang nicht ins Deutsche übersetzte Roman „Il sopravvissuto“ (Der Überlebende) von Antonio Scurati. In drei Monologen erinnert sich Marescalchi an exemplarische Unterrichtsstunden, in denen er gewissenhaft und getreu den vorgegebenen Curricula seinen Schülern die Menschheitsgeschichte im Kurzdurchlauf näherzubringen versuchte: die Geschichte des Krieges als gleichsam Konstante der modernen Welt, die Romantik als künstlerisch-literarisches Aufbegehren gegen die aufklärerische Vernunft, Platons Höhlengleichnis.

Ist humanistische, aus der Vergangenheit rührende Bildung womöglich ein überflüssiger Ballast und wenig hilfreich für das Heute, das Morgen? Woraus resultiert Gewaltbereitschaft, was bedeutet Wissen, wie gelange ich zur Selbsterkenntnis, wie werde ich „menschlich“? Die Fragen führen den Überlebenden Marescalchi in einer zeitlichen Gedankenspirale zu einem Ur-Lehrer, der seinen Einsatz für die Jugend eben nicht überlebte, zu Sokrates.

Realität und Fiktion werden eins

Dann öffnet sich im Theater ein zweites Theater, Realität und Fiktion werden eins. Eine Video-Sequenz zeigt Darsteller in antiken Theatermasken; das als Stummfilm ablaufende dialogische Ringen um Erkenntnis zwischen Sokrates und seinem Schüler Alkibiades, in das dann auch Gedanken von Cees Nooteboom einfließen, wird von den Schauspielern auf der Bühne wie im Synchronstudio grandios nachvertont. Nach diesem überwältigenden Zwischenspiel übernimmt wieder die Realität, die erinnerte Gegenwart. Der jugendliche Täter geht – ins Licht am Ende des Tunnels?

Weil das Mülheimer Ensemble durch die Proben zu Houellebecqs „Unterwerfung“ gebunden ist, wurde „Sokrates“ – bis auf den Lehrer – mit Kölner Schauspiel-Studierenden besetzt. Eine großartige Entscheidung.

Nächste Termine: 7. u. 11. Februar (19.30 Uhr). Tel. 0208 - 5990188