Essen. Jeder Mensch ein Roman: Der Reporter Lucas Vogelsang war Stadtschreiber im Revier. Das Magazin „Ruhrgebiete. Menschen am Fluss“ erzählt davon.

Als „Auswärtsspiel zu Hause“ hat der Berliner Reporter Lucas Vogelsang sein Jahr als Stadtschreiber Ruhr schon vor dem Anpfiff betrachtet, gleich nachdem er zugesagt hatte. Hätte ihm München einen ähnlichen Posten angeboten, er hätte sehr viel länger überlegt, sagte Vogelsang noch. Und nahm das mit der Ruhr genauso wörtlich wie den Stadtschreiber und zog los, gemeinsam mit dem Fotografen Philipp Wente, um Menschen am Fluss ihre Geschichten abzulauschen.

Und weil es ihnen um gute Geschichten ging, die wirklich erzählt werden wollen, musste die Ruhr dann auch mal an der Dortmunder Nordstadt vorbeifließen oder am Bochumer Stadion, das ja immerhin nach ihr benannt ist. Letztlich steigen die Menschen für die Geschichten, die Lucas Vogelsang über sie weitererzählt, ja auch für einen Moment aus dem großen Strom der Geschichte und den kleinen ihrer Geschichte und schauen, zurück und umher.

Als Globetrotterin aus dem Schwarzwald nach Duisburg

Frau Johannsen zum Beispiel, die schon die Koffer für Amerika gepackt hatte, Auswanderer-Koffer, und dann im letzten Moment doch in Duisburg landete, weil sie sich verantwortlich fühlte für ihre pflegebedürftige Tante. Anke Johannsen, die Globetrotterin aus dem Schwarzwald, blieb nicht nur hängen in Duisburg wie früher der ein oder andere Baumstamm aus den Riesenflößen ihrer Vorfahren. Sie fasste eine ungeahnte Zuneigung zu der Stadt mit dem gelegentlichen Talent zur Pechmarie, sie schrieb ein Liebeslied. Auf Duisburg.

Herr Steger zum Beispiel, dessen Großvater, Vater und Bruder in der Ruhr ertranken und der doch immer noch den Campingplatz an der Ruhr in Witten-Bommern betreibt, in dritter Generation. Und der dem Kehlkopfkrebs von der Schippe gesprungen ist.

15 Geschichten im Magazinformat, Bilder in angemessener Größe

Diese beiden Geschichten sind, zusammen mit 13 weiteren, passenderweise im Magazinformat erschienen, was schon deshalb gut ist, weil so auch Philipp Wentes realitätssatte, grobschöne Hartzeichner-Bilder im angemessenen Format daherkommen können. „Jeder Mensch ein Roman. Jeder Mensch, Stück für Stück, ein großes Theater. Man muss nur den Vorhang beiseite ziehen“, beschreibt Lucas Vogelsang im Vorwort seine Arbeitsweise, sein Ziel. Seine Sätze sind kurz und trocken, aber die Worte oft mit einem Maximum an Bedeutung aufgeladen, gern auch doppelt.

So kommen in seinem Magazin „Ruhrgebiete“ viele zu Wort, Helge Schneider beschreibt das „Tschibo-Studium“ seiner frühen Jahre, der Bochumer Schauspielhaus-Intendant trifft den Bochumer Fußball-Kopfarbeiter Ben Redelings im Stadion, und über die Dortmunder Nordstadt reden die, die etwas davon verstehen, der Raumplaner Didi Stahlschmidt, den es aus dem behüteten Süden der Stadt über den Sozialäquator in den aufregenderen Norden zog, den ehemals „klassischen Ruhrpott-Kanaken“ Suat Yilmaz, der dann doch Sozialarbeiter wurde und das Demokratie-Projekt „Verfassungsschüler“ erfunden hat, sowie der zugewanderte Fußballverrückte Janni Gruszecki, der am Borsigplatz wohnt und sagt: „Außerhalb der Nordstadt ist Dortmund wie Bielefeld. Da hätte ich auch in Ostwestfalen bleiben können“.

Geschichten, die viel zu selten aufgeschrieben werden

Einen „Ruhrgebiete“-Auftritt bekommt auch Jochen Nickel, Nebendarsteller in jenem Film, bei dem Lucas Vogelsang jeden einzelnen Dialog mitsprechen kann: „Bang Boom Bang“ von Peter Thorwarth. Aber die wahren Geschichten sind dann doch dem ganz normalen Leben, dem Alltag abgelauscht wie beim „Fischer und seiner Frau“ über den Aufseher einer geschlossenen Lederfabrik und die Betreiberin einer Trinkhalle gegenüber, die einander seit Jahrzehnten kennen und nun ihre letzte Runde drehen. Geschichten, wie man so schön sagt, die das Leben schrieb und die doch viel zu selten aufgeschrieben werden.

Lucas Vogelsang/Philipp Wente: Ruhrgebiete. Menschen am Fluss. Verlag Oliver Wurm, 130 S., 10 Euro.