Essen. Im nordöstlichen Deutschland der Nachwende-Zeit spielt Christian Alvarts neuer Thriller, der ein gelungenes Gesellschafts- und Zeitporträt ist.

Alles beginnt mit einem Autounfall. Auf seinem Weg in ein kleines Städtchen im Nordosten Deutschlands verliert Kommissar Patrick Stein die Kontrolle über seinen Wagen und rutscht eine mit Raureif überzogene Böschung herunter. Ein lästiger, aber eigentlich unbedeutender Zwischenfall, der jedoch eine große Symbolkraft hat. In „Freies Land“, Christian Alvarts Remake von Alberto Rodríguez’ spanischem Thriller „La isla mínima – Mörderland“, rutscht nicht nur ein Auto ins Marschland ab. Es ist vielmehr, als ob im Spätherbst 1992 die gesamte Gesellschaft in eine Schieflage geraten ist und immer mehr das Gleichgewicht verliert. Der endgültige Sturz in einen Sumpf alter Schuld und neuer Verbrechen scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

Vor einigen Tagen sind zwei Schwestern im Teenageralter aus einer abgelegenen Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern verschwunden. Eines Nachts sind sie am Ortsrand in ein Auto gestiegen. Seither hat sie niemand mehr gesehen. Nur beunruhigt das außer ihrer von Nora Waldstätten gespielten Mutter keinen mehr – seit der Wende vor drei Jahren haben so viele die kleine Stadt in der langsam vor sich hinsiechenden Provinz verlassen.

Trystan Pütter als Kommissar Stein und Felix Kramer als Bach

Außerdem beschäftigen die Menschen hier gerade ganz andere Dinge. Zum einen findet in diesen nasskalt-grauen Tagen das traditionelle mehrtägige Volksfest statt, für das die Gemeinde in der Region berühmt ist. Zum anderen kämpfen die Mitarbeiter des größten ehemals volkseigenen Industriebetriebs gegen die Lohnkürzungen, mit denen die neuen, aus Baden-Württemberg kommenden Besitzer die Rentabilität der Fabrik erhöhen wollen. Die beiden Kriminalpolizisten, der aus Hamburg stammende Patrick Stein (Trystan Pütter) und sein neuer Partner Markus Bach (Felix Kramer), stören mit ihren Ermittlungen die Einheimischen nur. Fast überall stoßen sie auf eine Mauer aus Desinteresse und Schweigen, die nicht einmal bröckelt, nachdem die verstümmelten Leichen der beiden gefolterten und missbrauchten Mädchen in einem der vielen Wasserläufe der Region gefunden wurden.

Schon Alberto Rodríguez’ Original, das ein paar Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur im sonnenversengten Andalusien spielte, war ein kritisches Gesellschafts- und Zeitporträt im Gewand eines Thrillers. Die Geschichte zweier ungleicher Polizisten, der eine ist durch und durch Demokrat, der andere war tief in den staatlichen Terror des Regimes verstrickt, diente Rodríguez als eine Art Brennglas. So konnte er von den Altlasten der Diktatur und den scheiternden Hoffnungen der noch ganz jungen Demokratie erzählen und zugleich die Konventionen des Genres bedienen.

Anders als „Abgeschnitten“ oder die „Tatorte“ mit Til Schweiger

Christian Alvart und sein Co-Drehbuchautor Siegfried Kamml haben diese Doppelstrategie übernommen und geschickt für die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung adaptiert. Überhaupt folgen sie Rodríguez’ Vorbild sehr genau. Nicht nur die Handlung bleibt sehr nah an „La isla mínima“. Auch formal orientiert sich Alvart deutlich an dem spanischen Film. Was auch heißt, dass er gänzlich auf die Sensationsdrehzahl von Filmen wie „Abgeschnitten“ oder „Tschiller: Off Duty“ verzichtet. In „Freies Land“ setzt er eher auf Atmosphäre als auf Action. Und selbst die wenigen, präzise in Szene gesetzten Actionmomente fügen sich perfekt in das elegische Gesamtbild des Films ein. Der Raureif, der die Landschaft um die kleine Stadt herum überzieht, liegt auch auf den Bildern. Sie verströmen eine nasse Kälte, die nach und nach auch den wohlklimatisierten Kinosaal erfüllt.

Anders als in Rodríguez’ Film, der von einem gewissen Pragmatismus zeugt und mit einem ganz leichten Hoffnungsschimmer endet, gibt es bei Alvart kein Entkommen. Die geteilte Vergangenheit und der Kampf der Systeme, die sich an der Berliner Mauer Auge in Auge gegenüberstanden, haben sich im wiedervereinten Deutschland wie ein Tumor eingenistet. Nicht nur der elendig an Krebs krepierende Markus Bach, der bei Felix Kramer bedrohlich und bedauernswert zugleich wirkt, der ohne Zweifel ein Monster ist, aber eben auch ein Opfer der politischen Umstände, geht langsam zugrunde. Das gesamte wiedervereinigte Deutschland findet auf der schiefen Ebene, die seine Geschichte ist, keinen Halt und rutscht immer weiter ab. Die Brüche und Verletzungen, von denen Alvart so bildgewaltig und atmosphärisch dicht erzählt, sind bis heute nicht verheilt.