Essen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Revier schreiben über einen Satz aus der Geschichte von Jesu Geburt im Lukas-Evangelium.

Wir haben Autorinnen und Autoren im und aus dem Ruhrgebiet gebeten, uns ihren Lieblingssatz aus der Weihnachtsgeschichte zu verraten, wie sie das Lukas-Evangelium überliefert – und darüber zu schreiben, warum sie diese Sätze so schätzen, bedeutungsvoll finden.

Die Zeit, die Geburt und der Friede

„Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“

Marianne Brentzel.
Marianne Brentzel. © Volker Hartmann

So ist das mit der Geburt. Die Zeit kommt einfach, ob ein Kaiser eine Volkszählung befiehlt, ein Krieg tobt oder andere politische Ereignisse die Welt in Unordnung bringen. Die Zeit kommt, ob Herrscher das wollen oder nicht. Aber es ist ihnen auch egal. So wie es Kaiser Augustus total egal war, ob sich auch Schwangere auf den Weg machen mussten, um gezählt zu werden. Für Maria kam die Zeit. Auch sie konnte es nicht bestimmen. Der Autor der Geschichte, Lukas, bringt es auf den Punkt. „Es kam die Zeit...“ Große Literatur!

In den Siebzigerjahren haben Ärzte versucht, Geburten zu programmieren. Sie sind gescheitert. Geburten lassen sich nicht in starre Planvorgaben zwängen. Und wenn es versucht wird, hat es schreckliche Konsequenzen. Schwere Behinderungen waren oft die Folge dieses Programmierungswahns.

Als ich Ende 1943 geboren wurde, versuchte meine Mutter, einen ruhigen Ort für die Geburt zu finden. Den hätten Maria und Josef auch gern gehabt. Er war ihnen nicht vergönnt. Und sie mussten sogar mit einer Krippe als Wiege vorlieb nehmen, die für Tierfutter gemacht ist. Bielefeld, die Heimatstadt meiner Familie, war 1943 ständig von Bombenangriffen bedroht. Ein Kind im Luftschutzbunker und unter Bombenhagel zur Welt bringen, hielt meine Mutter für unerträglich. Sie hatte schon vier Kinder zur Welt gebracht und kannte sich aus. Um in Ruhe zu gebären, konnte sie zum Glück in ein entferntes Waldkrankenhaus gehen. Und die Zeit kam. In der Nacht um halb drei. Ohne Bomben.

Nicht viele Gebärende in Syrien, in Afghanistan und anderen Ländern haben dieses Glück. Es gäbe etwas mehr Weihnachtsfrieden, wenn Gebärende in Sicherheit und unter guten Bedingungen ihre Kinder zur Welt bringen könnten.

Marianne Brentzel (* 1943), die bekannt wurde mit ihrer Biografie über die in Auschwitz ermordete „Nesthäkchen“-Autorin Else Ury, bekam 2014 den Literaturpreis Ruhr verliehen. Sie lebt in Dortmund, wo sie auch den „Bücherstreit“ organisiert.

Ein Kind, das ist die Zukunft

„Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!“

Wolfram Eilenberger.
Wolfram Eilenberger. © Foto: Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Es ist die Aufgabe der Zukunft, gefährlich zu sein. Diese Offenheit macht unser Dasein lebenswert. Schließlich wollte niemand in einer Welt leben, die immer nur Bekanntes gebiert. In der alles berechenbar wäre. In der wir – oder irgendjemand – genau wüsste, was das nächste Jahr, der Tag oder auch nur nächste Moment bringt.

Daran gemahnt auch der Engel der Verkündigung. Er kommt aus einer anderen Welt, kündet von der Ankunft einer neuen Zeit. Und als Mittler zwischen den Wirklichkeiten kennt er uns Menschen natürlich nur zu gut. Unsere kleinen Gedanken, unsere apokalyptischen Sorgen, unsere verstohlenen Hoffnungen. Es ist ihm also nicht entgangen, dass wir genau das am meisten zu fürchten pflegen, was unser Leben in Wahrheit schön und intensiv macht: eine Zukunft, die nicht in unseren Händen liegt. Eine Zukunft, die eher geworfen als gemacht, eher empfangen als produziert, eher geschöpft als designt würde. Die eindrücklichste Verkörperung einer solchen, eben grundmenschlichen Zukunft aber ist bis heute ein neugeborenes Kind. Der Neuanfang schlechthin. Eben jenes Ereignis, von dem auch der Engel kündet.

Es ist nur wenige Monate her, da wandte sich ein noch halbes Kind, im messianischen Tone der Verkündigung, an die gesamte Erwachsenenwelt. Seine Botschaft lautete: „Ich will, dass ihr Angst habt! Ich will, dass ihr in Panik geratet!“ Und zwar in Panik vor einer klar berechenbaren Zukunft, die mutmaßlich ganz und gar in unseren Händen liegt. Die vollständig von unserem Tun und Lassen abhängt. Für die wir und nur wir die gesamte Verantwortung tragen. Es ist indes nicht sicher, ob es eine solche Zukunft gibt. Noch, ob wir sie uns wirklich wünschen sollten. Sicher scheint derweil nur eines. Wahre Zukunftsengel sprechen anders. Und haben es schon immer getan. Mut!

Der Philosoph und Autor Wolfram Eilenberger (* 1972) ist der aktuelle Stadtschreiber Ruhr. Er war der Gründungs-Chefredakteur der Zeitschrift „Philosophie“ und wurde für sein Buch „Zeit der Zauberer“ über die Philosophie zwischen 1919 und 1929 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.

Ein Kind, das Geschichte wird

„Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.“

Karosh Taha
Karosh Taha © Funke Foto Services GmbH | Olaf Fuhrmann

Welche Quelle ist zuverlässiger: Die Bibel oder Wikipedia? Was ist zuverlässiger: die Vergangenheit oder die Gegenwart, die Geschichtswissenschaft oder das Internet? Die Vergangenheit, die von Generation zu Generation tradiert wird, die Geschichtswissenschaft, die unter dem Mikroskop gegenwärtiger Fragen und Thesen untersucht – oder ist die Gegenwart zuverlässiger, deren Zeugen wir alle sind?

Das Internet bietet Wahrheit und Unwahrheit zugleich. Das Internet bietet vor allem die Gewissheit, dass es keine Wahrheit gibt, alles ist ein Konstrukt, eine Narration. Noch einmal die Frage: Welcher Quelle kann ich vertrauen: der Bibel oder Wikipedia?

Unwichtig, ich konstruiere eine Narration aus den verfügbaren Mitteln, aus dem Evangelium und den Internet-Texten. Ein Paar befindet sich mit ihrem Neugeborenen auf der Flucht, weil der König nach dem Leben des Kindes trachtet – das Kind wird als Mann das Wort Gottes sprechen, weil er überlebt hat, er wird getötet werden, er wird auferstehen, eine Institution wird seine Geburt auf den 24. Dezember legen, seine Geburt, ob tatsächlich am 24. Dezember oder an einem anderen Tag, die Geburt markiert fortan den Anfang der westlichen Zeitrechnung.

2012 Jahre später, an einem 24. Dezember, wird ein Junge namens Alan in der kurdischen Stadt Kobane geboren. Alle Wikipedia-Seiten geben lediglich Alans Geburtsjahr an; nur die kurdische Wiki-Seite behauptet, er sei an einem 24. Dezember geboren worden. Seine Eltern fliehen mit ihm und seinem Bruder vor dem Krieg. Am Morgen des 2. September im Jahr 2015 fotografiert eine türkische Journalistin die Leiche des noch nicht dreijährigen Alan, wir haben das Bild gesehen, wir sind Zeugen: Das rote T-Shirt, die blaue Hose, ein Streifen weißer Haut des Rückens, die Farben vieler europäischer Fahnen.

Karosh Taha (* 1987) stammt aus dem kurdischen Irak; ihr Debütroman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ fand ein breites positives Echo. Karosh Taha erhielt den Hohenemser Literaturpreis und den Förderpreis des Landes NRW.

Der genauere Blick zum Nachthimmel

„Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.“

Jürgen Lodemann
Jürgen Lodemann © imago | imago/gezett

Als Jesus geboren wurde, war ein Quirinius „Landpfleger von Syrien“ (Lukas 2,2). Luthers Sprache. Heute hat Syrien Aufseher, vor denen Millionen auf der Flucht sind. Dabei benötigte der ganze Planet tatsächlich „Landpfleger“. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas verkündet intensiv „große Freude“, als sei schon damals Schiller/Beethovens Jubel- und Freude-Ode zu singen gewesen über „ein Kind, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegend“. „Armer Leute Kind“, so hörte ich das in Essen.

Am Nachthimmel vor Weihnachten 1943, da entdeckte ich als 7-Jähriger das einzige Sternbild, das jeder verstehen kann. Als Kuh, Rind, Milchtier. Unter Alarmgeheul und Explosionen mussten Mutter und ich zur Zeche Funke oder Gottfried, den genauen Namen weiß ich nicht mehr, jedenfalls hatten die Zechen „für die Zivilbevölkerung“ in der Tiefe Räume eingerichtet für den „Luftschutz“ – im immer brutaleren Bombardement des Hitlerkriegs.

Der Nachthimmel war wolkenfrei. Leute blieben stehen, „Ja jetzt!“ hörte ich, die Leuchtsäulen hatten einen „Flieger“ erwischt, beleuchteten Tragflächen, nun dröhnte neuer Geschützdonner, plötzlich gellte vielstimmiges „Ja!“, wie auf den Fußballplätzen, wenn das Tor getroffen ist – der „Feind“ stürzte ab, extreme Detonationen am Boden.

In diesem Moment irritierte ich meine Mutter. Ich muss es laut und deutlich gesagt haben. „Aber am Himmel, da ist eine Kuh!“ Auch sie blickte noch mal hinauf, zog mich in den Zechenschacht hinab. Erst unten hörte ich ihre Antwort, höre sie noch jetzt. „Das mit der Kuh am Himmel, das haben auch wir gesagt, als Kinder. Aber das Sternbild heißt nicht Kuh. Das heißt nach einem alten Lügner. Den hat eine Göttin verzaubert. In ein Rind.“

Jürgen Lodemann (* 1936) machte mit den Romanen „Anita Drögemöller“ und „Essen. Viehofer Platz“ das Ruhrdeutsch literaturfähig. Er wurde 1988 mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet und 2005 zum Professor des Landes NRW ernannt. Lodemann lebt in Freiburg im Breisgau.