Essen. Gefangen zwischen Lüge und Wahrheit: Der Film „The Farewell“ ist eine ergreifende Tragikomödie über das Leben zwischen China und Amerika.
„Nach einer wahren Begebenheit“ – in letzter Zeit schmücken sich immer mehr Filme im Vorspann mit diesem Hinweis. Er soll Echtheit suggerieren und der Geschichte größere Dringlichkeit verleihen. Auch die chinesisch-stämmige US-Regisseurin Lulu Wang hat ihrem zweiten Spielfilm „The Farewell“ einen solchen Hinweis vorangestellt. Allerdings verkündet er, dass das Folgende „auf einer wahren Lüge“ basiert. Eine leicht spöttische Antwort auf die vielen Filme, die sich auf reale Ereignisse berufen, und ihre komödiantisch erzählte Familiengeschichte ist das auch.
Lulu Wang weiß genau, dass Authentizität eben kein Gütesiegel für Kunst ist. Also nimmt sie sich die nötigen Freiheiten und verwandelt eine autobiografische Episode in eine ergreifende Tragikomödie über das Leben zwischen China und Amerika, dem Osten und dem Westen.
Billi muss die Familienlüge aufrechterhalten
Billi (Awkwafina) steht unter Schock. Sie kann es nicht fassen, dass ihre in Changchun lebende Großmutter Nai Nai (Zhao Shuzhen) unheilbar an Krebs erkrankt ist und bald sterben wird. Und noch weniger kann sie es fassen, dass die gesamte Familie beschlossen hat, Nai Nai im Ungewissen über ihren Zustand zu lassen. Billi lebt zwar schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert in New York. Aber ihre Großmutter ist trotz der riesigen Entfernung immer noch ihre wichtigste Bezugsperson. Also widersetzt sie sich den Anweisungen ihrer Eltern und reist auf eigene Faust zum letzten großen Familientreffen nach Changchun. Dort angekommen, muss auch sie die Familienlüge aufrechterhalten, dass alle nur für die Hochzeit von Billis Vetter nach China gekommen sind.
Die Lüge, mit der Billi und ihre Familienmitglieder leben müssen, ist zugleich die Wahrheit, auf die Lulu Wang zu Beginn hinweist. Auch sie musste miterleben, wie ihre Familie ihre Großmutter über deren Krankheit belogen hat. In China hat dieses Vorgehen Tradition. Die Familie versucht, sterbende Verwandte auf diese Weise zu schützen. Sie nimmt die Last der Wahrheit auf sich, um der Großmutter so eine möglichst schöne und unbeschwerte Zeit zu schenken. Innerlich rebelliert Billi gegen diese Form von Mitleid, die ihre Großmutter zugleich entmündigt. Nach außen spielt sie aber mit.
Familie ist wichtiger als persönliche Überzeugungen
Selbst Billi, die in New York zu einer unabhängigen jungen Frau herangewachsen ist, spürt, dass der Zusammenhalt der Familie ein größeres Gewicht hat als ihre persönlichen Überzeugungen. Dieser Konflikt zerreißt sie fast. Aber Awkwafina nimmt ihm etwas von seiner tragischen Schwere. Mit ihrem stoischen Gesichtsausdruck und ihrem teils linkischen Auftreten erinnert die Schauspielerin und Rapperin an die großen Komödianten der Stummfilmzeit. Wie einst für Buster Keaton oder Harold Lloyd ist Komik auch für Nora Lum, wie sie mit bürgerlichem Namen heißt, ein Mittel, dem Schmerz und der Tragik des Lebens zu widerstehen. Ihr vom Slapstick geprägtes Spiel offenbart die Fallstricke einer Sozialisation zwischen Ost und West auf eine liebevolle und warme Art. So kann Lulu Wang in ihrem ebenso komödiantischen wie komplexen Familienporträt das Beste beider Welten vereinen, ohne die Widersprüche zu leugnen.