Essen. Ein neuer Bildband aus dem Bestand des Foto-Museums zeigt das Ruhrgebiet in gegensätzlichen Fotografien – mit ungeahnt genauen Perspektiven.
Eine Hauptstadt der Fotografie war das Ruhrgebiet fast von Anfang an. Schon in den Kindertagen der neuen Technik erkannte etwa ein Alfred Krupp ihre Bedeutung für das Image seiner Stahl- und Waffenschmieden: Seit 1861 hatte Krupp eine eigene fotografische Abteilung; und auch die Fotografen-Ausbildung bei Thyssen war legendär. Neben der Industriefotografie, technisch stets auf der Höhe der Zeit, entstanden Unmengen von Bildern durch Reklame- und Pressefotografie; aber auch durch einzelne Städte wie Essen, die eigene Fotografen beschäftigten. Und schließlich die legendäre Fotografen-Ausbildung an der Essener Folkwang-Schule, begründet von Otto Steinert, dessen Sammlung den Grundstock legte für die erste Foto-Abteilung eines deutschen Kunstmuseums im Folkwang, die nach ihrem Ausbau durch Ute Eskildsen heute Weltgeltung genießt.
Verdienste von Ute Eskildsen und Otto Steinert
Neben den über 60.000 Fotografien im Folkwang wirken zwei weitere Sammlungen wie Riesen: Allein 2,5 Millionen Aufnahmen lagern im Historischen Archiv Krupp und im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein sind es gar vier Millionen. Und dessen ehemalige Foto-Chefin Sigrid Schneider glaubt: „Keine deutsche Region dürfte in den letzten 150 Jahren gründlicher ins Bild gesetzt worden sein“ als das Ruhrgebiet. So schreibt sie es im Nachwort des von ihr herausgegebenen Foto-Bandes „Heimat“ mit ausgewählten Fotografien aus dem Bestand des Ruhrmuseums.
Der Band ist keine Schwelgerei, er beruht auf der abgewandelten Brecht-Devise, dass die Heimat nicht tümelt. Aus einem 360-Grad-Winkel betrachtet, besteht sie sogar aus lauter Gegensätzen. Und so sehen wir hier neben der dreckigen Arbeit die saubere Freizeit von ballspielenden Badehosenburschen, wir sehen in vielen Werbefotografien ins Bild gesetzt, wovon die Menschen träumten oder träumen sollten, wir sehen Frauen, die 1917 in der Kokerei von Karnap arbeiteten, und einen Pumpwerk-Taucher mit kugeligem Helm. Abgetaucht wurde auch 1956 im Werksschwimmbad der Zeche Friedrich Ernestine.
Keine Nostalgie-Seligkeit zwischen Callas und Schalke
Der Band badet nicht in Nostalgie-Seligkeit, auch wenn seine ältesten Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert und die meisten aus der Zeit zwischen 1950 und 1980 stammen. Bilder aus Nazi-Deutschland sind ebenso spärlich wie unpropagandistisch, und nicht selten zeigen die Farbaufnahmen mehr Tristesse als die schwarz-weißen. Sie zeugen von zusammengekehrtem Ruß wie vom stullenschmierenden Vater vor der hungrigen Großfamilie oder der Callas vor faszinierten Fans im Essener Saalbau und typischen Kneipenszenen, dem tropischen Gartenparadies in Marxloh wie den Schrebergärten an der Autobahn oder der Kokskohlenhalde und von türkischen Arbeitern im Fotostudio oder bei der erneuten Auswanderung.
Sigrid Scheider hat die Bilder nach Gegensatzpaaren wie „oben und unten“, „draußen und drinnen“, „dreckig und sauber“ oder „tun und lassen“ gruppiert. Das sorgt zwar dafür, dass sorgfältig durchdachte oder komponierte Bild-Serien auseinandergerissen werden; insgesamt aber entsteht ein genauerer, vielfältigerer Blick auf das Ruhrgebiet als es die meisten anderen Fotobände bieten können.
„Heimat. Fotografien aus dem Ruhrgebiet. Bilder aus dem Fotoarchiv des Ruhrmuseums Essen“, hg. von Sigrid Schneider. Klartext Verlag, 208 Seiten, zahlr. Abb. in s/w und Farbe. Fest-Einband, 29,95 Euro. ISBN 978-38375-2218-1