Im Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann ist das „Vorbilderbuch“ erschienen, eine „kleine Galerie der Menschlichkeit“. Hier ein Auszug:

Wer ein echtes Rundum-Vorbild für alle Wechselfälle des Lebens sucht, wird in der wirklichen Welt kaum fündig. Das liegt daran, dass Vorbilder vor allem Teil-Bilder sind. Sie entstehen durch selektive Wahrnehmung, durch gezielte Ausblendung all dessen, was nicht zu einem Vorbild passt, was nachteilhaft für seine Funktion wäre. Vorbilder sind ohnehin keine Bilder von der Wirklichkeit, sondern welche vom Ideal. Keine Fotografien, sondern Reinzeichnungen. Der vorbildliche Mensch, der sich ja selbst meist nicht wehren kann dagegen, Vorbild zu sein, wird zur moralisch korrigierten Abstraktion dessen, was wir Realität nennen. Aber es ist abstrahiert von etwas Konkretem, das einen Namen hat, das macht seine Anziehungskraft aus. Das Vorbild ist die Möhre, der ein moralischer Esel hinterher trabt. Es ist ein Wert zum Anfassen, mit zwei Wurzeln: die Wirklichkeit und deren Bereinigung vom Unwesentlichen. Ein Ideal wird darin sicht- und greifbar, konkret und – scheinbar – unmittelbar. Das Vorbild ist eine Art Heiligenbildchen der Humanität, mehr Wunsch- als Abbild. Ein Vorbild muss nicht unbedingt real sein, viel wichtiger ist der Schein, in dem es erstrahlt. Und vielleicht wird das Vorbild sogar zur Fiktion, weil es sich um eine Abstraktion von der Realität handelt. Zu einer nützlichen, einer notwendigen Fiktion, die aber eben auch notwendiger Weise eine Fiktion ist.

Oder?

Vorbilder sind Bilder aus Fleisch und Blut

Manchmal sieht es doch so aus, als lebten die Vorbilder unter uns. Manchmal begegnet man einem Vorbild und kann ihm beim Vorbildlichsein zusehen. Helden des Alltags gibt es ja gar nicht so selten, Gutestuer, Einmischer, Förderer, Mahner, Aufpasser, Bremser, Ermutiger, Entsager, Vernunftverwirklicher, Verzichter.

Eigentlich wird ein Vorbild ja umso vorbildlicher, je mehr es aus Fleisch und Blut ist, je mehr es Mensch ist und nicht bloß Bild. Ein Vorbild muss zutiefst nahbar sein oder zumindest erreichbar. Zugleich muss es aber so umwerfend vorbildlich sein, dass erst gar kein Neid entstehen kann auf seine Vorbildlichkeit. Nötig ist stattdessen eine mehr oder minder große Beschämung beim Gegenüber: So, genau so und nicht anders, denkt der Vorbildnehmer über den Vorbildgeber, ist es richtig – und zugleich: Das könnte ich doch auch.

Vorbilder wären ja keine mehr, wenn wir sie erreichen könnten

Oder? Oder besteht der Sinn von Vorbildern manchmal vielleicht sogar darin, sich Moralität in ihrer vollkommenen Gestalt vom Leib zu halten, weil man sie ohnehin nicht erreichen kann? Ihre Konkretheit, ihr Bild-Sein ist das, was Vorbilder faszinierend macht – und zugleich eine Falle darstellt, weil alles Streben danach, es einem Vorbild gleichzutun, am Ende ein Defizit ergeben wird: Vorbilder wären keine Vorbilder mehr, wenn wir sie wirklich erreichen könnten. Das erreichte Vorbild ist eine Nullität. Vorbilder werden bewundert, weil ihr So-Sein ein Wunder ist, wie von einem anderen Stern und für Normalsterbliche nur zum Staunen.

Oder?

Vorbilder sind Ausdruck einer Sehnsucht nach Verbesserung

Nein, Vorbilder sind zum Nacheifern gedacht, sonst gäbe es sie nicht. Aber wer sich ein Vorbild nimmt, muss stark sein. Stark genug, es auszuhalten, dass das Vorbild am Ende nicht zu erreichen ist. Seltsam, welche Wörter das Tun des Vorbildnehmers bezeichnen: bewundern, streben, eifern. Sie deuten auf die in der Wurzel religiöse Herkunft des Vorbilds und auf die erwünschte Schülerhaftigkeit all jener, denen das Musterbild vorgesetzt wird oder die sich das Musterbild aussuchen.

Überall da, wo ein Vorbild entsteht, ist auch Unzufriedenheit mit dem, was ist und wie es ist. Vorbilder sind Ausdruck einer Sehnsucht nach Verbesserung. Ausdruck eines Defizits: Wäre alles in Ordnung und würden alle sich richtig verhalten, bräuchte es keine Vorbilder. Das ist der Grund, warum Vorbilder auch peinlich sein können – sie erinnern an das nicht Gelungene.

Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela

Und genau das ist auch der Grund, warum Vorbilder manchmal nicht helfen: So, wie es kein richtiges Leben im falschen gibt, so gibt es gesellschaftliche Bedingungen, die Vorbilder unwirksam werden lassen. Aber Vorbilder helfen auch gegen den (manchmal bequemen) Kleinmut des Einzelnen im Angesicht des großen Ganzen, der Verhältnisse, die sich mit dem Anschein von Unverrückbarkeit einbetonieren gegen Widerstand und Veränderung. Es war die subjektive Stärke gegenüber der objektiven Aussichtslosigkeit, die Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela zu Vorbildern werden ließ.

Dass wir Vorbilder frei wählen können, ist ein Fortschritt

Oder? Oder kann nur eine Gesellschaft, nur eine Gruppierung, die einen gemeinsamen Werte- und Tugendkanon hat, noch Vorbilder kennen, die das Erstrebenswerte verkörpern? Ein großes, allgemeinverbindliches Vorbild will nicht mehr so recht passen zu unserer Zeit, die in der Selbstermächtigung des Individuums große Fortschritte gemacht hat, ohne es wirklich zum Subjekt seiner Geschichte werden zu lassen: Zersplitterung von Gemeinschaften und Gemeinsamkeit, Ego-Fixierung und Einsamkeit in der Vereinzelung sind der Preis für Individualisierung und „Selbstverwirklichung“, gesellschaftlich als Entsolidarisierung spürbar.

Dass Vorbilder heute nicht mehr verordnet werden, sondern selbst gewählt, ist ein wichtiger Fortschritt. Zugleich aber ist der Kanon von Werten, die allen gemeinsam sind, auf ein Minimum geschrumpft, und in diesem Prozess sind uns auch die meisten gängigen Vorbilder zersplittert. Wir haben keine Vorbilder für ein rundum gelungenes Leben mehr, wir haben heute Ausschnitt- oder Teilzeit-Vorbilder, gültig für jeweils einen anderen Sektor des Lebens. Das vermehrt die Zahl der Vorbilder – und schmälert zugleich ihre Zugkraft, ihr Faszinosum. Aber notwendig bleiben sie. Das Land, das Helden nötig hat, mag mit Brechts Galilei unglücklich sein; aber ein Land, das keine Vorbilder mehr nötig zu haben glaubt, hat sich schon aufgegeben und ist auf dem Weg in die Barbarei.