Gelsenkirchen. Janáčeks kühl distanzierte „Makropulos“-Oper erwacht im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier, das seinen 60. Geburtstag feierte, zu neuem Leben.

60 Jahre „Musiktheater im Revier“: Ein stolzes Alter – aber noch längst nicht der Pubertät entwachsen im Vergleich zu Emilia Marty, der alten, aber äußerst jung und attraktiv gebliebenen Dame, die bereits 337 Lebensjahre auf dem Buckel hat. Sie ist die zentrale Figur in Leos Janáčeks Oper „Die Sache Makropulos“, mit deren Premiere die Gelsenkirchener Oper ihr Jubiläumswochenende erfolgreich abschloss.

Weniger verträumt als das „Schlaue Füchslein“, nicht so hart wie „Jenufa“

Ungeachtet des lang anhaltenden Schlussbeifalls zählt „Die Sache Makropulos“ nicht zu den beliebtesten Opern von Leoš Janáček. Die skurrile Geschichte um die steinalte Emilia hat in der Oper nicht nur den komödiantischen Zungenschlag der Vorlage von Karel Čapek verloren. Sie strahlt auch wenig von dem aus, was die Erfolgsstücke Janáčeks ausmachen: die märchenhafte Traumwelt des „Schlauen Füchsleins“ oder der harte Realismus der „Jenufa“. Ein Schleier kühler Distanz schwebt über der Oper, der einem das Schicksal der „unsterblichen“ Frau nicht so zu Herzen gehen lässt will wie die Katastrophen der anderen großen Frauenfiguren Janáčeks.

Auf der anderen Seite löst sich der Komponist damit erheblich radikaler von romantischen Vorbildern, so dass „Die Sache Makropulos“ weiter als die meisten anderen Opern des Mähren in die Moderne ragt. Keine leichte Aufgabe, ein Stück um eine Frau zu stemmen, die wie aus dem Nichts auftaucht und sich aus unerfindlichen Gründen in einen seit 100 Jahren schwelenden und mittlerweile juristisch völlig verfransten Erbschaftsstreit mischt. Da weiß noch niemand, dass Emilia im Jahre 1611 durch einen Zaubertrank ihres alchemistischen Vaters unsterblich werden sollte. Vom Erbstreit erhofft sie sich, in den Besitz des Elixier-Rezepts zu gelangen, um ihr Weiterleben sichern zu können. Am Ende erkennt sie jedoch, dass ihre Angst vor dem Tod unbegründet ist und zeigt sich bereit zu sterben. Denn auch ein unendliches Leben verspricht kein unendliches Glück, nicht zuletzt im Umgang mit ihren vielen Liebhabern, die in ihrer Nähe die Kälte einer Todgeweihten zu spüren glauben.

Dietrich Hilsdorf begann 1981 am Musiktheater im Revier

Versuchte die Bonner Oper vor einem Jahr, die distanzierte Kühle des Werks zu unterstreichen, beschreitet Dietrich W. Hilsdorf, der seine lange Karriere 1981 mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“ am Musiktheater im Revier begann, einen diametral entgegengesetzten Weg. Er sieht das Werk als Psycho-Krimi, möchte es dramatisch aufheizen, die theatralischen Elemente betonen und ihm auch eine Prise des in der Oper verlorengegangenen Humors der literarischen Vorlage zurückgeben. Eine Hitchcock-würdige Spannung wurde versprochen.

Ein Versprechen, das Hilsdorf im letzten Akt auch weitgehend einlösen, während er in den konversationslastigen ersten beiden Akten auch keine Wunder an prickelnden Grusel-Schauern vollbringen kann. Gleichwohl versteht es Hilsdorf, der seinen Ruf als Provokateur seit langem hinter sich gelassen hat, mit seinem Können die Figuren lebendig zu führen, ihnen ein ausgeprägtes Profil zu geben und damit auch die langen Dialoge in den ersten Akten unterhaltsam zu gestalten.

Hilsdorf greift in die Handlung ein

Richtig spannend wird es aber erst im letzten Akt, wenn sich die Rätsel auflösen und Hilsdorf ausnahmsweise die Handlung eigenmächtig erweitert, indem Emilia nicht nur bereit ist, auf ihr Weiterleben zu verzichten, sondern aktiv aus dem Fenster des Hotels springt. Und auch die Wirkung des Lebenselexiers findet damit bei Hilsdorf nicht ihr Ende, sondern setzt sich in der Tochter des Kanzleivorstehers Vitek fort. Diskutable und wirkungsvolle Eingriffe, die das Werk nicht entstellen, zumal Hilsdorf ansonsten regelrecht brav dem Libretto treu bleibt. Und auch Dieter Richters Bühnenbilder, ein gewaltiger Aktenpalast im ersten, eine leere Bühne im zweiten und ein etwas antiquiertes Hotelzimmer im letzten Akt, lenken nicht vom Sinn des Werks ab.

Rasmus Baumann mit viel Gespür, Petra Schmidt singt und spielt großartig

Die farbige Tonsprache Janáčeks arbeitet Rasmus Baumann am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen leuchtkräftig und mit viel Gespür für die subtilen Facetten der Partitur heraus, womit auch er zum spannungsvollen Ablauf des straffen Abends wesentlich beiträgt. Letztlich getragen wird die Produktion von den vokalen und darstellerischen Leistungen des elfköpfigen Ensembles, das sich ausnahmslos von seiner besten Seite zeigt. Das betrifft natürlich in besonderem Maße Petra Schmidt als Emilia Marty zu, die die Anforderungen der Partie nicht nur stimmlich vorbildlich erfüllt, sondern auch die chamäleonhafte Wechselwirkung als äußerlich jung gebliebene, innerlich jedoch bis an den Rand der Resignation gereiften Frau darstellen kann.

Sonderbeifall erhielt der verdienstvolle, über 80-jährige Tenor Mario Brell, ein Urgestein des Musiktheaters, für seinen Auftritt als alternder Verehrer Hauk-Schendorf. Stimmlich absolut gleichwertig fechten Urban Malmberg als Jaroslav Prus und Martin Homrich als Albert Gregor ihre Erbstreitigkeiten aus. Khanyiso Gwenxane überzeugt als Janek Prus erneut mit seinem kultivierten lyrischen Tenor, auf gleichem Niveau präsentiert sich die Sopranistin Lina Hoffmann als Krista. Joachim G. Maaß als Notar Dr. Kolenaty und Timothy Oliver als Kanzleivorsteher Vitek runden das Ensemble nahtlos ab.

Insgesamt eine unspektakuläre, aber durchweg spannende und vorzüglich ausgeführte Produktion einer nicht sonderlich populären oder bequemen Oper. Der begeisterte Beifall des Premieren-Publikums war mehr als berechtigt.

Die nächsten Aufführungen im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier: am 12., 15. und 29. Dezember sowie am 4., 12. und 24. Januar (www.musiktheater-im-revier.de; Karten-Telefon: 0209/4097200).