Die britische Band Coldplay kehrt zurück zu ihren wagemutigen Wurzeln: Warum „Everyday Life“ das beste Album seit „Viva la Vida“ ist.
Bedeutungsschwer hängt der Himmel am Anfang des neuen Coldplay-Albums „Everyday Life“ voller Geigen. Unvermeidlich, wie es scheint, denn das 16 Stücke umfassende Werk ist in zwei Hälften unterteilt, „Sunrise“ und „Sunset“. Und da die vier englischen Musiker seit knapp anderthalb Dekaden die einträglichste Lautmalerei der Popmusik betreiben, geht die Sonne ihrer Deutung nach selbstverständlich streicherstark auf. Allerdings gar nicht so dur-intensiv wie man es von den Londoner Schönfärbern, die jedes vollbesetzte Stadion so gerne in ein blinkendes Mandala verwandeln, erwarten würde. Unheil droht, die in Moll dröhnenden Kontrabässe verkünden das. Und was macht ein hellhäutiger Engländer wie Coldplay-Sänger Chris Martin in so einem Fall? Er geht in die Kirche. „Because when I’m hurt, then I go to the church“ singt er brav und so hallintensiv auf der Stimme, als ob es darum ginge, eine Lebensweisheit in die Lüfte pressen wollte.
„Viva La Vida“ findet noch Nachhall in den Niederungen deutschsprachiger Popmusik
Das ist freilich nichts Neues bei Coldplay, und es erklärt letztlich auch ihr supermegaerfolgreiches Bedienen scheinbarer Menschheitssehnsüchte. Die Reaktion der Band auf die komplexe Moderne war immer das Evozieren kleiner, alltäglicher und heimeliger Bedürfnisse, die sodann zum Elefanten hochstilisiert wurden. Aus dessen Kehlkopf strömten jene „Oh-ho-ho“-Choräle, die Coldplays Beschallungsmittel erster Wahl für Fußballstadien wurden, und die auch heute noch, 12 Jahre nach „Viva La Vida“, notorisch-enervierenden Nachhall in den Niederungen deutschsprachiger Popmusik provozieren.
Die Frage, ob „Everyday Life“ etwas taugt, ist angesichts dieser weltumspannend wirksamen Vertiefungen des Profanen eigentlich irrelevant. Nicht nur, weil sich die englische Band seit 10 Jahren mittels arger Ideenstarre sukzessive in die kreative Irrelevanz gespielt hat. Seit seinem vorvorletzten Studioalbum „Mylo Xyloto“ konfektionierte sich der Markenartikler Coldplay nach allen Regeln der Kunst selbst. Die Chöre trugen zunehmend dicker auf, das Bunte sollte vom großen Nichts ablenken, aus dem Humba-Humba-Nummern wie „Every Teardrop Is A Waterfall“ stammten.
„Everyday Life“ spiegelt Ansichten zur gesellschaftspolitischen Großwetterlage
Viel relevanter scheint da die Frage zu sein, ob Coldplay ihre geliebten, riesigen Freiluftspielstätten mit „Everyday Life“ weiterhin füllen können. An diesem Punkt wird die Auseinandersetzung mit der Platte interessant. Laut der Band, die zum Album so gut wie keine Interviews geben will, spiegelt „Everyday Life“ ihre Ansichten zur gesellschaftspolitischen Großwetterlage und zum Alltäglichen. Halleluja! Aber die vier vollkommen unspektakulären Typen geben darin, wer hätte das gedacht, überraschend gute Figuren ab. Gleich „Church“, der zweite Albumsong, unterstreicht, wie musikalisch-nuancenreich Coldplay ticken können. Man kann Boris Johnson, dem Poltergeist von Westminster, natürlich auch mit aussagekräftigen Zeilen entgegentreten. Ausgerechnet Coldplay entsagen sich aber dem aufgeheizten dafür-oder-dagegen-Zeitgeist mit feinsinnig gestreuten Botschaften.
Da finden Chöre „I’m Not In Love“-Zuspitzungen wie weiland bei 10cc. Und dem vermutlich nächsten Premierminister Englands, der seinen Rassismus unverhohlen mit dem Vergleich zwischen Burka tragenden Frauen und englischen Briefkästen herauskotzt, schlagen Coldplay detailstark gesungene arabische Skalen um die Ohren. Und es kommt noch besser. „BrokEn“ setzt die christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung in den a cappella-Kontext eines Gospelchors. Die Watsche Richtung weißer Hassprediger ist darin kaum zu überhören. Und weil zum Alltäglichen das Unvollendete gehört, wartet Chris Martin mit der waschechten, kurzen Demoaufnahme „WOTW/POTP“ auf, die den Glanz des großangelegten Coldplay-Entertainments ad absurdum führt.
Hat man die Band Coldplay etwa jahrelang unterschätzt?
Natürlich entlarvt die Band ihr bisheriges Werk damit nicht als redundant. Sie gestaltet es aber nach gefühlten Ewigkeiten endlich wieder abenteuerlich. „Arabesque“, die Kollaboration mit dem deliziös-androgynen, belgischen Musikers Stromae ist im Grunde genommen Coldplay in Reinkultur. Hymnenhaft erhebt sich darin ein Refrain, der allerdings nicht im Massenchor ausartet, sondern von der herrlichen Geschwätzigkeit eines Blechbläser-Ensembles auf die Spitze getrieben wird. „Guns“ ist der klassischste Protestsong des Albums. Zu schnell geschlagener Lagerfeuergitarre nimmt Chris Martin darin bitter-ironisch die Perspektive des neoliberalen Ideologen ein, der den Sozialstaat schröpft, um mehr Geld in Waffen investieren zu können. Spätestens wenn die Instrumental-Kollage „Bani Adam“ gespielt ist und die Streicher vom Anfang im Titelstück am Ende wiederauftauchen, ist das Weltbild des gemeinen Coldplay-Rezensenten ins Wanken geraten. Hat man die Band jahrelang unterschätzt? Oder ist ihr mit „Everyday Life“ lediglich ein Glücksgriff gelungen?
Fest steht, dass es das beste Coldplay-Album seit „Viva La Vida“ ist. Stadien werden sich mit dem Material zwar nur bedingt bespielen lassen. Aber zu diesem Zweck soll im nächsten Jahr dann gerüchteweise gleich ein weiteres Album erscheinen. Hoffentlich nicht, um den Ausnahmestatus vom „Everyday Life“ im Coldplay-Werk zu bestätigen.