Gelsenkirchen. Radikal und voller Energie: Gelsenkirchens neues Ballett-Ensemble, die „MiR Dance Company“, beeindruckt beim Tanzabend „Les Noces / Sacre“.
Den ersten Coup landete Gelsenkirchens neues Ballett-Ensemble am Sonntag. Dieser Abend geriet so radikal anders, dass eine Gefahr schlagartig vom Tisch war: Jeder Vergleich mit den großen Schatten der Ära Bridget Breiner.
Wenn diese Premiere die programmatische Visitenkarte ist, dann wird Tanz am Musiktheater im Revier stärker denn je auch Kampf und Kräftemessen sein, Grenzen überschreiten, ja sie sogar sprengen. Davon geben schon die Tänzerinnen und Tänzer Zeugnis, für die der neue Ballettdirektor Giuseppe Spota sich entschieden hat: in der großen Mehrzahl unübersehbar Athleten, selbst unter den Damen keine Ballerinen-Zartheit. Zu sagen, dass diese Künstler zu allem fähig sind, kann sich als Kompliment entwickeln.
Bei der Doppel-Premiere wird dem Publikum nichts geschenkt
Nach der Doppel-Premiere wissen wir aber auch: Geschenkt wird dem Publikum hier nichts. So wenig der rauschende Premierenbeifall (mit auffallend vielen italienischen Gästen) über die lange Strecke der Repertoire-Aufführungen sagt, so gespannt darf man sein, ob das Publikum diese Art Tanz zu umarmen lernt. Kleine Brücken könnten helfen: Strawinskys Texte zu „Les Noces“ als Übertitel etwa wären ein erster Schritt. Sie fehlten in Mauro Bigonzettis Choreographie, die die Stationen einer Bauernhochzeit brachial in Bewegung überträgt. Ihr szenisches Leitmotiv ist in Fabrizio Montecchis Bühnenbild ein stilisiertes Chorgestühl. Dessen Metall wird am Ende schaukelnd die Glocken der Trauung läuten: ein Bild, das sich einbrennt. Dazwischen ein herber, ja schonungsloser Blick auf die Paarbildung: In dieser Welt nimmt man sich nicht jemanden zur Frau, man „nimmt“ einfach nur. Das Ritual speisen viele Wiederholungen, was den gut 25 Minuten gelegentliche Längen gibt. Packend war das dennoch, gleichwohl sind Bigonzettis Dominanz der Tableaus kein Hort tänzerischer Individualität.
Spota verneigt sich mit dem Spielzeit-Auftakt, bei dem er selbst nicht choreographiert, vor Förderern, Leit- und Vorbildern. Geht er einen Weg wie Uri Ivgi und Johan Greben, wäre das Anlass zu schönsten Hoffnungen: Deren Strawinsky-Arbeit „Sacre“ ist seit Sonntag in einer überwältigend, aber auch atemberaubend düsteren Choreographie zu sehen. Die Geschichte vom Frühlingsopfer ist hier nicht weniger als totale Apokalypse. Wie der Mensch des Menschen Wolf wird, vollzieht sich im vernebelten Kerker von Karol Dutczaks Bühne als klaustrophobisch grundiertes Endspiel.
Auf dem Rücken der Außenseiter
Das Menschenopfer-Thema der „Bilder aus dem heidnischen Russland“ überträgt die „MiR Dance Company“ auf jenen Kampf ums Überleben, der ohne Außenseiter nicht zu machen ist. Aus den martialischen Fehden, aus dem urplötzlich aufgetürmten Berg der Leiber wird der eine erwählt. Das ist Tanz von entwaffnender Körperlichkeit und eine botschaftssatte Choreographie, deren boshafte Energie den Zuschauer pausenlos elektrisiert.
Der heimtückisch vertrackten Welt Strawinskys stellten sich Opernchor, ein starkes Solistenensemble und das Orchester der Neuen Philharmonie unter Giuliano Betta überaus respektabel.
Nächste Termine: 17., 23, 30.11;13., 25.12.