Essen. Wer’s sehen will, muss sich sputen: Tschaikowskis „Dornröschen“-Ballett im Essener Aalto frisch entstaubt mit Videoprojektionen und Heundemeute.

In rotem Jagdrock reitet Prinz Désiré auf einem echten Pferd über die Bühne des Essener Aalto-Theaters. Er landet mitten in einer Herbst-Idylle in Grün-Braun, einer verwunschenen Landschaft – so, wie einst Charles Perrault in seiner Fassung „Die Schöne im schlafenden Wald“ das Märchen vom „Dornröschen“ erzählte.

Geführt wird der Prinz von der Fliederfee (in Fliederfarben) zum Schloss, wo Prinzessin Aurora seit 100 Jahren schläft. Die Kostüme und Kulisse, die Dorin Gal und Videokünstlerin Valeria Lampadova für das Tschaikowski-Ballett in Essen kreierten, lehnen sich an historische Genre-Gemälde der Parforcejagd an. Sogar eine lebendige Hundemeute hat der Aristokrat hoch zu Ross im Schlepptau.

Die Königin klettert lasziv aus Badewannen-Schaumkronen

Eine überraschende, aufwendige Szene, die zu Ben Van Cauwenberghs traditioneller „Dornröschen“-Choreographie passt. Sie orientiert sich am Original von Marius Petipa, uraufgeführt vor 130 Jahren im St. Petersburger Mariinski-Theater. Begeisterung und Jubel waren groß im voll besetzten Aalto für ein Märchenbuch-Ballett auf beachtlichem tänzerischem Niveau. Und mit dem hochgewachsenen Artem Sorochan hat man in Essen sogar einen Prinzen aus St. Petersburg: unaufgeregt, aristokratisch souverän erlöst er seine Traumfrau mit dem berühmten Weck-Kuss. Van Cauwenbergh verzichtet auf psychoanalytische Um- oder Neudeutung. Da wird nicht etwa aus Dorn- ein ‚Zornröschen’. Bis auf eine Badewanne mit Schaumkronen, aus der anfangs die Königin lasziv herausklettert, ist diese Produktion mindestens jugendfrei. In schillernden Farben und Videoprojektionen, die aufwendige Bühnenbauten ersetzen und den gleichen Effekt haben. Rekonstruktionen von (ur-)alten Stoffen – danach sehnt sich ein Großteil des Publikums.

Das bediente Essens Ballettchef bereits mit „Don Quixote“, „Schwanensee“ und „Nussknacker“. Bei ihm rieselt kein Staub. Frische Farben, reduziertes Dekor. So wirkt keine Szene altbacken. Selbst wenn die böse Fee, die von der Taufe ausgeladene ‚Carabosse’, ihr düsteres Wesen treibt und das Kind Aurore verflucht, bemüht zwar Adeline Pastor reichlich Stummfilm-Pathos. Doch Blitz und Donner, Berge und Schluchten wirken wie in einem High-Tech-Comic.

Yanelis Rodriguez mit Latino-Glamour bestechend gut

Zudem beweisen Solisten und Ensemble erneut, dass das Aalto-Ballett auf der Höhe ist und sich weder in modernem Tanz noch im klassischen Ballett vor größeren Kompanien verstecken muss. Yanelis Rodriguez als mädchenhaft quirliges Dornröschen mit Latino-Glamour besticht im Hochzeits-Pas-de-deux, besonders aber im „Rosen-Adagio“ (ein gefürchtetes Wettbewerb-Solo!) mit sekundenlangen Balance-Akten auf einem Spitzenschuh. Makellos und schwebend ebenso Mika Yoneyama als behütende, gute Fliederfee. Eine elegante Tänzerin mit Supertechnik, von der man gewiss noch hören und sehen wird. Virtuose, duftig leichte und munter wirbelnde Sprünge und Pirouetten indes bieten Yuki Kishimoto und Davit Jeyranyan als Blauvogel-Paar. Klar, dass bei so viel Bravour Ovationen nicht ausbleiben. Bleibt nur eins: Tickets möglichst schnell bestellen, die Nachfrage ist immens.

Termine: 14., 15. und 24. November, 6., 8. und 14. Dezember, 17., 19. und 29. Januar, 19. Februar. www.theater-essen.de