Duisburg. Kein origineller Regie-Ansatz, und doch wird „La Boheme“ in Duisburg zum Ereignis – Titelheldin Liana Aleksanyan und den Philharmonikern sei Dank.

Zu den reizvollen Rätselndes Phänomens Oper gehört die Tatsache, dass die beiden unangefochtenen Lieblingsheldinnen des Genres was an der Lunge haben. Neben der entsagungsvollen Lebedame Traviata trifft der tödliche Morbus Koch auch die tapfere Gelegenheitsnäherin Mimì; Puccini hat ihr in „La Bohème“ ein tränentreibendes Denkmal gesetzt. Die Neuinszenierung der Rheinoper hustet auf diese Gebrechen. Philipp Westerbarkei verfolgt einen anderen Therapie-Ansatz. Seine Inszenierung gilt dem Wahn. Diese ganze Geschichte von einer Liebe unter Pariser Losern – dem armen Poeten Rodolfo und der sterbenskranken Mimì – ist ein erinnerter Schmerz, der den Übriggebliebenen in die Isolation einer Anstalt gebracht hat.

Für einen so jungen Regisseur zieht Westerbarkei (Jahrgang 1987) damit ein relativ altes Theaterkaninchen aus dem Deutungshut. Wie viele Sentas, Taminos und all die anderen ihre Leben auf den Bühnen der Welt schon „retro“ betrachten mussten: Wir haben das Zählen irgendwann eingestellt. Und doch: Die rasante erzählerische Qualität des Abends entkräftet den gegähnten Einwand. Dieser Abend ist einfach spannend, wendungsreich und menschenbildnerisch intensiv. Musikalisch glänzt er in fast allen Kategorien auf sehr hohem Niveau.

Antonio Foglianis Dirgat der Extraklasse, Philharmoniker in überwältigender Form

Dazu zählt das Glück, Duisburgs Philharmoniker mit Puccini zu hören. Alle möglichen Einwände, Antonio Fogliani übertöne mit der gewählten Phonstärke das Bühnengeschehen nicht selten, überhören wir nur zu gerne, wenn solches Orchester-Opiat der Lohn ist. Kristalline Süße, dann wieder fast militante Präzision, höchste Emotionalität ohne kitschige Weichzeichung: Die Philharmoniker treibt Foglianis feingliedriges, nie aber ins Detailverliebte ausfransende Dirigat von der Harfe bis zum Schlagwerk zu überwältigend guter Form.

Die Titelheldin steht dem nicht nach. Mag Liana Aleksanyan von der Schwindsüchtigen auch so weit entfernt sein wie ein Zehnkämpfer vom Treppenlift: Die grenzenlose Sinnlichkeit dieses Soprans, die den Raum flutende Opulenz dieser farbensatten Stimme sind schlichtweg betörend. Kompliment, dass die Sängerin im Finale ihr Arsenal klug reduziert, da sie Wahrhaftigkeit und nicht vokaler Dominanz den Vorzug lässt. Dass Eduardo Aladréns Tenor keinen schneidigen Rodolfo zeigt, stützt die Künstlerproblematik – es mag aber auch Tagesform gewesen sein, dass mancher Wesenszug nicht nach Freiwilligkeit klang (die Piani nach der Pause sprachen nur unter Mühe an, anderes klang fahl).

Bogdan Bacius, Richard Sveda, Luke Stoker, Lavinia Dame, Peter Nikolaus Kante glänzen

Das Sänger-Ensemble, allen voran die Künstler-Clique von der Seine (traumhaft Bogdan Bacius viriler Marcello, stark Richard Sveda und Luke Stoker), ist erste Klasse. Lavinia Dames Musetta zeigt in ihrem faszinierend fokussierten Sopran weit mehr als die üblichen Soubretten-Schwalbe. Peter Nikolaus Kante hat in Westerbarkeis Regie gleich drei kauzige Typen zu singen -- er spielt und singt sie mit Bravour.

Herzhafte Premiere-Buhs, pralles Vorweihnachtstreiben

Lässt man sich ein, birgt das mit herzhaften-Premieren-Buhs bedachte Konzept durchaus Reiz. Etwa dann, wenn die ganze Männer-Gesellschaft nur ein Mensch ist, aus dem all die Wesenszüge wie Dämonen entspringen. Die Schatten einer großen Tragödie sind hier derart wirkmächtig, dass all die Figuren auch in den Szenen der Einsamkeit das blassgrün gekachelte Halbrund der Bühne fast nie verlassen. Tatjana Ivschina hat diesen Raum gestaltet, der im klinischen Abgrund den zentralen Spielort sieht und damit nicht zuletzt auf Henri Murger anspielt. Als der Franzose 1847 die Romanvorlage schrieb, nannte er die Bohème eine Vorstufe „zum Leichenschauhaus“.

So ist nichts mehr vital, nicht einmal das pralle Vorweihnachtstreiben, das wir als Augenschmaus in der Etage über den Elenden sehen. Bei näherer Betrachtung erweist es sich mit seiner gespenstischen Folk­lore nurmehr als Ansichtskarte aus einem abgelebten Dasein: Schöne Grüße aus dem Land der Unentrinnbarkeit.

Puccini, La Bohème. Theater Duisburg. Ca 2,5 h. Eine Pause. Karten (Tel. 0203-283 62 100): 19-66 €. Nächste Vorstellungen: 30. November, 7., 15., 21. und 25. Dezember. Die Inszenierung wird später auch im Opernhaus Düsseldorf zu sehen sein