Köln. Die Unruhen in Chile sorgen sie genauso wie die Brände rund um ihr Haus in Kalifornien. Isabel Allende im Interview auf ihrer letzten Lesereise.
Isabel Allende erscheint überpünktlich zum Interview mit Jens Dirksen in der Lobby des Savoy-Hotels – und sieht zu, dass sie Platz nimmt. Sie müsste mit ihren knapp anderthalb Metern sonst immer hochsehen, egal, mit wem sie spricht. Isabel Allende (77), deren Vater ein Cousin des ermordeten chilenischen Präsidenten Salvador Allende war, auf Augenhöhe über Waldbrände in Kalifornien, Unruhen in Chile und ihre letzte Lesereise.
Was macht Ihnen denn im Moment mehr Sorgen, die Situation in Chile oder die in den USA?
Beides, mir macht beides gleich viel Sorgen. Die Waldbrände sind sehr dicht an meinem Haus, wir haben keinen Strom, kein WLAN, viele Häuser haben kein Wasser. Mein Sohn, der sein Haus auch da hat, ist zu seinem Sohn nach San Francisco geflohen. Eine ernste Situation – und wir hatten dasselbe letztes Jahr! Es betrifft ja auch die Landwirtschaft und den Weinbau und die Leute aus Zentral- und Lateinamerika, die da arbeiten! Sie verlieren alles!
Und Chile?
Die Situation ist extrem interessant, sie kann jeden Moment zu etwas sehr Gewaltsamen explodieren. Aber bis jetzt ist es friedlich geblieben, auch wenn mehr als eine Million Menschen auf der Straße waren. Sie protestieren, weil sie eine radikale Veränderung in der Verteilung des Wohlstands erreichen möchten. Das Land hat wirtschaftlichen Fortschritt erlebt, und in den Statistiken ist Chile ein Land der „Ersten Welt“, mit politischer, ökonomischer und sozialer Stabilität. Trotzdem ist die Verteilung sehr unfair.
Woran liegt das?
Seit Pinochet ist alles privatisiert worden, Wasser, Gas, Transport, Strom, Gesundheit, Bildung – alles ist privatisiert. Die Leute müssen für alles bezahlen, und deshalb gibt es eine breite Mittelschicht, die auf Pump lebt, und viele Leute mit „verkleideter Armut“. Es sieht in den Statistiken nicht wie Armut aus, aber sie ist verbreitet. Alte Leute haben Renten, die nicht einmal fürs Essen reichen, die Renten wurden auch privatisiert. Deshalb ist das keine politische oder ideologische Bewegung. Sie ist ohne Anführer. Die Leute auf der Straße sind wütend. Sehr wütend.
Aber doch nicht planlos.
Nein, sie wollen Veränderungen in der Verfassung, die noch von Pinochet entworfen wurde, und Veränderung in der Wirtschaftsordnung, die im Moment Firmen und die Elite begünstigt. Ein Prozent der Chilenen besitzt 25 Prozent des Wohlstands! Das macht die Leute sauer. Ich schreibe ja historische Bücher, und was ich in der Geschichte sehe, ist: Der Grund für Revolutionen ist selten Armut, der Grund ist fast immer Ungleichheit. Wie begann die Französische Revolution? Der Adel hatte alles, der Rest der Leute fast nichts. Wie begann die Revolution in Russland? Wir haben einen Punkt erreicht, an dem der Kapitalismus neu justiert werden muss. Er ist ein gutes System, viel besser als der Kommunismus, aber er muss korrigiert werden, weil er einen Graben zwischen den Wohlhabenden und dem Rest der Welt erzeugt.
Sie reden noch über Chile?
Ja, aber dasselbe passiert ja an vielen Stellen auf der Erde. Auch in den USA. Ich weiß nicht, wie das in Europa ist, aber es gibt viele Länder, in denen sich die Leute ausgeschlossen fühlen. Die Reichen und Mächtigen leben in einer Blase. Und die Antwort der Regierung in Chile lässt offensichtlich werden, dass sie gar nicht wissen, wie die Leute leben, sie nehmen nie die U-Bahn oder den Bus. Sie bewegen sich in Privatjets. Sie wissen nicht, wie die Leute, die für sie arbeiten, wirklich leben.
Aber Sie müssen auch Flugzeuge nehmen, um auf Lesereise zu gehen.
Ja, aber mit sehr schlechtem Gewissen. Vielleicht gibt es in Zukunft umweltfreundlichere Reisemöglichkeiten.
Aber warum tun Sie sich diese Lesereisen noch an? Ihre Bücher verkaufen sich doch sowieso.
Ach, gibt da immer so einen Druck, ich möchte meinen Verlegern einen Gefallen tun, die flehen geradezu. Aber Sie haben recht, ich bin mit meiner Schwiegertochter unterwegs, wir sind ohne unsere Ehemänner, jede Nacht in einem anderen Hotel und essen die falschen Sachen, dauernd im Flugzeug, im Zug, im Auto. Gestern haben wir gesagt: Das ist unsere letzte Lesereise!
Wirklich?
Ja, das ist mein letztes Wort! Ich möchte in Ruhe zu Hause sitzen und schreiben!
Zuletzt waren Sie vor drei Jahren hier, Sie haben in Dänemark einen Preis bekommen...
Sehen Sie, wie schrecklich diese Reiserei ist? Ich weiß nicht einmal, welchen Preis ich da bekommen habe. Und ich bin nicht dement!
Hatten Sie denn jemals einen „Writer‘s block“, eine Schreibblockade?
Ja, als meine Tochter gestorben ist. Da haben meine Gedanken endlos gekreist.
Wann hat das aufgehört?
Ich habe mir nach zwei Jahren ein Sachbuch vorgenommen, nichts, wofür man Fantasie braucht. Ich bin ja gelernte Journalistin, ich musste recherchieren und nur die Ergebnisse aufschreiben, das ging. Das hat mir sogar sehr geholfen.
Sie schreiben heute mit dem Computer, aber Ihr erster Roman, „Das Geisterhaus“ ist bestimmt noch auf einer Schreibmaschine entstanden, oder?
Oh ja, ich saß da mit einer Reiseschreibmaschine (zieht die Hände auf Din-A-5-Abstand zusammen), sooo klein war die! Und ich hab mit Kohledurchschlag geschrieben, für die Korrektur. Die Maschine wurde sogar mal in einem Museum in Sacramento ausgestellt, ein Jahr lang, wie eine Reliquie aus dem alten Ägypten.
Mit wem besprechen Sie Ihre Manuskripte denn?
Gar nicht! Ich schreibe auf Spanisch, aber alle um mich herum sprechen Englisch! Okay, meinem Bruder schicke ich sie, der sieht wirklich jeden sachlichen Fehler. Wenn ich über eine Bürgerkriegsschlacht im spanischen Teruel schreibe und die Menschen bei mir das Falsche anhaben, dann schreibt er streng: ‚Isabel! In der Woche war Frost in Teruel! Da ist niemand bloß im Hemd herumgelaufen...‘ So was.
Ein Faktenchecker, wie praktisch!
Oh ja. Ich bin ja eigentlich Journalistin, und alle wichtigen Menschen in meinen Büchern hat es ja wirklich gegeben.
Wie fühlt sich denn die Journalistin in Ihnen bei Interviews?
Schrecklich! Ich stelle viel lieber selber die Fragen.
Okay, was wollen Sie wissen?
(lacht) Nun, ...
Nein, nein, war wirklich nur Spaß! Lassen Sie uns noch einmal ernst werden. Ihr neues Buch handelt von Flucht und Vertreibung – ist das ein Thema ihres Lebens?
Ich fühle mich Flüchtlingen emotional sehr nahe. Ich bin mein Leben lang eine Fremde geblieben. Ich war es von Anfang an. Weil meine Eltern als Diplomaten durch die Welt gezogen, ich wurde es dann erst recht als politischer Flüchtling nach dem Putsch von Pinochet. Und jetzt lebe ich als Einwanderin in den USA.
Sie haben allerdings nur noch einen leichten Latino-Akzent!
(lacht) Sie glauben nicht, wie hart das war, Englisch zu lernen. Als ich vor 32 Jahren damit anfing, konnte ich gerade einmal etwas im Restaurant bestellen - aber nur, wenn ich vorher die Speisekarte lesen durfte !
Die Sprache ist allerdings unabdingbar für Integration.
Absolut! Man darf es Einwanderern auch nicht durchgehen lassen, wenn sie die neue Sprache nicht lernen. In San Francisco haben wir eine der größten Chinatowns auf der Welt, da gibt es Leute, die haben da ihr ganzes Leben gelebt und kommen aus dem Viertel gar nicht raus, sprechen kein Wort Englisch, die haben chinesische Supermärkte, chinesisches Fernsehen, chinesische Theater, chinesisches Essen – ich glaube, die wissen manchmal gar nicht, dass sie nicht in China sind!
Bei uns ist es manchmal ähnlich mit den türkischen Einwanderern.
Aber das gilt ja nur für die erste Generation. Die zweite geht zur Schule und lernt die Sprache.
Und ist in den USA dann integriert?
Vollständig! Die Eltern meiner Schwiegertochter kamen aus Neapel in die USA und bekamen von ihren Eltern verboten, Italienisch zu sprechen. Sie essen zu Weihnachten noch italienisch, sie haben noch einige italienische Traditionen, aber sie sind voll und ganz Amerikaner. Allerdings kamen die Wellen von Einwanderern ja nicht als Flüchtlinge in die USA, sie kamen, um zu bleiben, sie glaubten an eine Zukunft in diesem Land. Das bedeutet eine ganz andere Einstellung.