Frankfurt/M. Beim Frankfurter Oktoberfest der Bücher ist alles wie immer und manches besser: die Stimmung. Es gibt auch Guerilla-Marketing und „Kids on Stage“.
Wenn etwas anders kommt, als gedacht, nennen wir das: Realitätsschock. Und nun? „Wir müssen uns eingestehen, dass wir etwas übersehen haben“, erklärt eine Stimme, die wie die von Sascha Lobo klingt, hinweg über eine die Gänge verstopfende Menschentraube, aus deren Mitte der rote Kamm einer Frisur herausragt, die wie die von Sascha Lobo aussieht. „Und dann müssen wir überlegen, was wir jetzt tun können.“ Buchmesse ist, wenn Menschen, die wie ihre eigenen Doubles aussehen, Sätze sagen, die wir irgendwie schon mal gehört haben – und wir uns trotzdem freuen, weil alles so ist wie immer.
Dabei ist es sogar etwas besser in diesem Jahr in Frankfurt, die chronisch krisenhafte Branche konnte in Deutschland zuletzt ein leichtes Umsatzplus 2,5 Prozent verkünden, zählt immerhin 7450 Aussteller aus 104 Ländern bei ihrem großen Oktoberfest. Und hat zudem das beherzigt, was Sascha Lobo so herzig rät: hat überlegt, was man tun könnte. Das Ergebnis sind entzückende Graswurzel-Events und Guerilla-Aktionen, noch etwas verkrampft anmutende Hinwendungen zum Jungen, Frischen – und eine zunehmende Aufweichung der Grenzen zwischen jenen, die Bücher lesen, und jenen, die sie schreiben.
Buch als Apfel-Ersatz und ein „Pop-Up-Empfang“
Schon auf dem Weg zur Messe begegnet den Besuchern die erste Marketing-Masche, die im wahrsten Sinne von unten kommt: „A book a day keeps the doctor away“ – ein Buch (und nicht ein Apfel) am Tag hält den Doktor fern, so steht es mit Schablonen gesprayt auf den Gehwegen. Man darf vermuten, dass die Kampagne #wirmachenbuecher auch die Straßenreinigung bezahlt.
Ebenso selbstgemacht kommt ein Abendereignis der Kampagne im Frankfurter Literaturhaus daher, das sich „Pop-Up-Empfang“ nennt: Die Aussteller können Biertische anmieten und freie Reden zur Lage des Buchmarktes schwingen. Im vergangenen Jahr gehörte die Veranstaltung zu den am besten besuchten, umso selbstbewusster wirbt man jetzt für den Donnerstagabend: „Multiplikation trifft Garagenparty trifft Neoklassizimus“.
„Kids on Stage“ und Deutsche Cosplay-Meisterschaften
Zum Glück findet die zweitcoolste Party der Branche einen Tag früher statt: Zum „Trinken und Rumstehen“ haben drei Büchermenschen per Mail eingeladen, jenseits der großen Verlagspartys kamen zuletzt in einer kleinen Kneipe und vor allem auf der Straße davor hunderte Partygänger zusammen und bejubelten ihre eigene Ursprünglichkeit – herrlich, alles so wie früher hier!
Aber auch auf dem Messegelände selbst bemüht man sich um Frische. Erstmals gibt es mit den „Kids on Stage“ eine eigene Bühne für die internationalen Kinderbuchmacher, die „New Generation“ hat ebenfalls ihren eigenen Bereich – also Jugendliche, die keinesfalls mit den Kindern in einen Topf geworfen werden wollen. Dazu passt, dass auch die Cosplayer, deren Deutsche Meisterschaft immer schon am Messesonntag in Frankfurt stattfand (und nicht etwa in der Cosplayer-Hochburg Leipzig), jetzt präsenter werden sollen: Manga-Comic-Stände zwischen den etablierten Verlagen und ein eigener kleiner Pavillon auf dem Messegelände sollen die verkleideten Besucher sichtbarer werden lassen: So geht Integration. Und schöne Pressebilder gibt es hoffentlich auch.
„Blogger, Selfpublisher und Podcaster“
Der Pavillon des Gastlands Norwegen
So kühl war der Gastland-Pavillon der Buchmesse noch selten: Das Leseland Norwegen präsentiert sich in einer langgestreckten, minimalistisch ausgestatteten Halle voller Büchertische – optisch noch verlängert durch zwei riesige Spiegelwände. Allein auf der Rückseite der Halle laden zwei Cafés in Kiefernholzoptik zum Verweilen ein.
Dazwischen „Wittgensteins Boot“: Ein marodes Fragment eines Ruderbootes, das auf dem Grund des Sognefjords gefunden wurde – hier hat Ludwig Wittgenstein mehrere Sommer verbracht. Die Behauptung, genau dies Boot könne sein Boot sein, spielt mit der Wirkmacht von Geschichten und wärmt das Herz, noch in der kühlsten Halle.
Vor allem aber springt die Messe auf einen Trend auf, den die freie Publikationsvielfalt im Internet der Branche beschert hat: „Frankfurt Authors“ ist ein neuer Bereich für „Blogger, Selfpublisher und Podcaster“. Hier präsentieren sich Online-Schreibschulen, Publikationstools, Verlage auf Autorensuche (die gerne für die Druckkosten aufkommen dürfen) oder auch die Software „Qualifiction“: Sie analysiert Manuskripte und soll Autoren helfen, deren Bestseller-Qualitäten einzuschätzen – indem sie etwa den Anteil direkter Rede zählt, die durchschnittliche Satzlänge ermittelt oder das Niveau des Vokabulars. Ob es hilft? Auf der Bühne werden derweil grundsätzliche Fragen behandelt: „Was ist ein Exposé?“ Muss es noch erstaunen, dass hier noch mehr Zuhörer als bei Sascha Lobo die Gänge rings die Bühne um füllen? Schreiben ist das neue Lesen, scheint‘s.
Und wer tatsächlich noch immer selbst liest, der hat offenbar einen anderen Anspruch an „seinen“ Autor: Vier Glaskästen auf der Freifläche in der Mitte des Messegeländes heißen „Signierboxen“ – und dort werden vor allem am Wochenende Autorinnen und Autoren sitzen und Autogramme geben. Und auch, wenn die Schar der prominenten Gäste (diesmal Thomas Gottschalk, Doris Dörrie, Margaret Atwood, Jo Nesbø) zum großen Oktoberfest dazugehört – die kleinen Glashäuschen erinnern doch arg an Zoo. Hat da etwa jemand was von aussterbenden Arten gesagt? Am Wochenende ist die Messe auch für Privatbesucher geöffnet. Tageskarte 22 Euro, Wochenendkarte 30 Euro. www.buchmesse.de