Essen. Sie kam, sah – und das Publikum im Saal stand auf: In Essens Alter Synagoge wurde Polens Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk gefeiert.
Sie trägt die Dreadlocks aufgetürmt zu einem großen Dutt, bunt schaukelnde Ohrringe umrahmen ihr Meret-Becker-Lächeln. Die 57-jährige Olga Tokarczuk könnte man sich als Inhaberin eines Bioladens vorstellen oder bei der Apfelernte im Nachbarschaftsgarten. Vor drei Tagen aber wurde ihr mit dem Literaturnobelpreis eine geradezu staatstragende Würde verliehen, die sie, wie sie gesteht, noch immer nicht richtig verarbeitet hat: „Ein Nachteil ist ja“, sinniert sie mit leisem Hauch von Ironie in der Stimme, „dass ich nun nie wieder einen Literaturpreis erhalten werde“.
Klar: Was soll jetzt noch kommen? Rund 300 Gäste finden am späten Sonntagnachmittag gerade eben noch Platz in Essens Alter Synagoge: Stoisch hat die Frischgekürte ihre Lesetour durch Deutschland durchgezogen und auch den Termin bei der Lit.Ruhr keinesfalls abgesagt. „Wie immer“ ist dennoch gar nichts an diesem Abend, vor allem nicht der Beginn.
Kaum betritt Olga Tokarczuk den Saal, scheint sich die Lesung in ein Popkonzert zu verwandeln: Reihe um Reihe stehen die Gäste auf, klatschen im Stehen, jubeln. Zücken ihr Handy und halten es hoch über die Köpfe, filmen, fotografieren. „Vermutlich sind ein paar Menschen hier, die polnisch sprechen?“, fragt Moderatorin Olga Mannheimer und erntet lautstarken Jubel von mindestens der Hälfte des Saales – im weiteren Verlauf wird sie das Spiel mit den beiden Sprachen virtuos gestalten. Unterstützt wird sie dabei von Roman Fingas, dem Ehemann Tokarczuks, der so gut Deutsch spricht, dass er ihr als Simultanübersetzer Wort für Wort ins Ohr flüstert.
Katja Riemann las den deutschen Text aus dem Roman „Die Jakobsbücher“
Ach ja: Katja Riemann war übrigens auch da, ganz rechts am Rand der Bühne, und wirkte zunächst beinahe erstaunt, einmal nicht der hellste Stern im Rampenlicht zu sein. Später allerdings sollten ihre mit Verve vorgetragenen Textpassagen aus Tokarczuks jüngstem Roman „Die Jakobsbücher“ dazu beitragen, einen gemeinen Satz von deren früherer Übersetzerin, der Schriftstellerin Esther Kinsky, zu widerlegen: „Ihre Stärke ist nicht die Sprache“, hatte sie dem „Spiegel“ gesagt und darauf verwiesen, dass Tokarczuk in Polen vor allem als esoterische Feministin und streitbare Demokratin von vielen Frauen verehrt würde.
Anders und unbequem ist sie sicher, dass wird schnell klar an diesem Abend. Etwa literarisch: 1100 Seiten zählt ihr jüngstes Buch, eine Zumutung, die man kaum Roman nennen kann. Ist das Werk doch zusammengesetzt aus Schriftstücken, Fragmenten und erzählten Passagen, und dies noch dazu „in der vierten Person“. Wie bitte? Tatsächlich hat Tokarczuk mal eben die Literaturgeschichte um eine bislang unbekannte Perspektive erweitert, hat dem Ich-Erzählen, der sperrigen zweiten Person und dem auktorialen Erzähler eine vierte Variante hinzugefügt: Gemeint ist eine Erzählerin (!), „die nicht nur alles über alle Figuren weiß, sondern auch alles über die Autorin selbst“ – das möchte Olga Tokarczuk als metaphysische Erweiterung der Literatur verstanden wissen. Womit das Adjektiv „esoterisch“ nachvollziehbar wird.
Eine Lebensgeschichte, die sowohl Juden als auch Katholiken lieber vergessen hätten
Zugleich ist „Die Jakobsbücher“ ein hochpolitisches Buch, bringt es doch eine „schier unglaubliche Lebensgeschichte“ ans Licht, die „aktiv“ vergessen worden sei: „Die orthodoxen Juden haben Jakob Frank als eine dunkle Gestalt in ihrer Geschichte betrachtet, und die katholische Kirche, die Jakob Frank eingesperrt hatte, womöglich misshandelt, war auch nicht daran interessiert, an ihn zu erinnern.“ Als das Werk 2015 in Polen erschien und Tokarczuk es wagte zu sagen, Polen müsste sich seiner Vergangenheit stellen, auch Unangenehmes erinnern – da erhielt sie Morddrohungen. Weiter als bis zu dieser Episode wagte sich Moderatorin Olga Mannheimer allerdings nicht ins gegenwärtige Polen (immerhin ja am entscheidenden Wahlabend), sondern schwenkte vorsichtshalber ab zur Frage, wie historisch verbrieft der Roman denn sei.
Drei Jahre habe sie recherchiert und sei viel gereist, erzählte die Autorin, und doch habe der Historiker, den ihr Verlag eigens eingestellt habe, noch Fehler entdeckt. „In Polen sind Kartoffeln die Nationalspeise, also habe ich auch im Roman Kartoffeln auf den Tisch gestellt“. Nur kannten die Menschen in diesem Teil Polens, nahe der türkischen Grenze, noch gar keine Kartoffeln. Sondern aßen Reis. „Also musste meine Lektorin im ganzen Roman Kartoffeln durch Reis ersetzen“, erzählt Olga Tokarczuk mit ihrem erfrischenden Bioladen-Gesicht – die Nobelpreisträgerin, die über ihre eigenen Fehler lachen kann.