Bochum. Spielzeitauftakt im Schauspielhaus: Regisseurin Karin Henkel kehrt nach Bochum zurück und deutet Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“.

Ein Stück, in dem sich Schwein an Schwein reiht: Ja, der Horváth, er war halt ein Menschenkenner. Spielzeitauftakt in Bochum mit einem Werk, das hier lange nicht zu sehen war und doch so gänsehautfördernd zeitgenössisch ist: „Geschichten aus dem Wienerwald“.

Nichts ist Wien, nichts Wald an diesem Abend, mit dem Karin Henkel nach vielen Jahren wieder am Schauspielhaus inszeniert. Horváths Ruf nach Stilisierung kommt sie durchschlagend nach. Die Eröffnung: geheimnislos. Apokalypse als Aussicht. Was kommen wird, erblickt der Zuschauer in Thilo Reuters Bühne allzu deutlich: das Grab eines Neugeborenen umgeben von lauter Opfern unter Folie. Am Ende dieses Stücks wird die Heldin bekanntlich vom ungeliebten Metzger Alfred heimgeführt. Den hässlichen Doppelsinn des Wortes „Schlachten“ kennen wir ja aus einer legendären Shakespeare-Deutung.

Glamour-Vorhang nimmt Abstieg zur Varieté-Tänzerin vorweg

Und hinter diesem Tableau von Leichen, die auf bedauernswerte Weise unter den Lebenden sind, visualisiert die Inszenierung auch Anfang und Ende des Frauenschicksals der Marianne. Die billige Illusion, mit der ihr Vater, der Zauberkönig, handelt, markiert ein gigantischer Totenschädel, direkt davor bühnenhoch die düsteren Fäden eines Glamour-Vorhangs, der Mariannes Abstieg zur Varieté-Tänzerin vorwegnimmt.

Und die schöne blaue Donau? Ein Abfluss, sich abwärts schraubend, in der Mitte jener großen grauen Bodenscheibe, die den Menschen an diesem Abend Mühlrad am Hals ihrer Unentrinnbarkeit ist – und ein Kanaldeckel, der den Ekel der Welt kaum verkappen kann.

„Geschichten aus dem Wienerwald“ in Bochum mit acht Schauspielern

Die Marianne aus Horvarths Wiener Wald ist der einzige gute Mensch in einer Riege von Monstern. Ihre Hölle ist der achte Bezirk. Es regiert: kleinbürgerliche Selbstgefälligkeit als Motor für gegenseitige Niedertracht, eine Hackordnung um ein paar Schillinge – und Ehrbarkeit (völkisches Gequassel ebenfalls) als Chiffre, den Nächsten ans Halseisen zu liefern.

Karin Henkels Regie verschärft das Klaustrophobische dieses Kosmos, wenn sie nicht nur die liebliche Zithermusik zugunsten von Lars Wittershagens dumpfem Party-Gewummer verstummen lässt. Mehr noch tut sie es, da sie Horváths Personal unters Brennglas legt: In Bochum gibt es acht Schauspieler für 22 Rollen. Mal intensiviert das die Gesellschaftsanalyse, birgt aber auch (etwa im völlig verschenkten Kabinettstück der dämonischen Großmutter) Unschärfen. Die Flut rhetorischer Banalitäten und Kalendersprüche, mit denen Horváths Figuren ihr jämmerliches Leben bestücken, sprechen die Schauspieler in extremer Distanz. Man lauscht ihnen hellhörig, im Staunen über die aggressive Modernität der Sprache. Freilich fragt man auch: Wäre der Abgrund nicht steiler noch, hätte das Ensemble seine Figuren mehr empfunden als bloß dar- und bloßgestellt?

Leidenschaftlich-treuer Bochumer Applaus zum Spielzeit-Auftakt

Marianne ist Opfer zweier Männer. Marina Galic porträtiert sie als isolierte Puppe, die Lebenshunger nie gekannt hat. Wenn sie zu gefallen versucht, mobilisiert sie (etwa mit acht Doppelgängern) und anderen Tricks, den Oberflächenzinnober des elterlichen Zauberladens. Galic rührt als Einsame in schlechtester Gesellschaft. Um sie herum: kräftig gezeichnete Typen, Kaleidoskop der Karikaturen auch. Die welkende Kiosbesitzerin Valerie (Karin Moog) ist ein Ebenbild von Otto Dix‘ Anita Berber. Den Strizzi Alfred, der Marianne schwängert, gibt Ulvi Teke mit gespenstischer Nervosität, freilich nicht zum ersten Mal mit der Gefahr einer mimischen Überdosis. Sein Pendant ist der Schlachter Oskar: Der Belgier Mourad Baaiz lässt einen mitleidig zurück. Er müht sich mit dem Idiom Horvaths („Hascherl“) nicht weniger als mit dem Versuch, einem stumpfen Biedermann Facetten zu schenken. Bernd Rademacher steigt als Zauberkönig mit Kassengestell in eine untertemperierte Heinz-Erhardt-Bütt. Als vielgesichtige Nornen durchmessen Gina Haller und Thomas Anzenhofer die Szene.

Der Abend ist frostig erzählt, frösteln macht er einen in zweidreiviertel Stunden erst zum Ende hin. Kein überwältigender Spielzeit-Auftakt, aber doch eine von stilsicherem Ehrgeiz getriebene Aufführung. Es gab den berühmten, weil leidenschaftlich-treuen Bochumer Applaus.