Hagen. Paul Hindemiths Cardillac ist ein Künstler, der sich nicht trennen kann. Das Theater Hagen macht daraus jetzt Bauhaus-Oper

Vom Cardillac-Syndrom spricht die Psychologie, wenn ein Künstler sich nicht von seinem Werk trennen kann. Paul Hindemiths gleichnamiger Opernheld treibt diese Besessenheit auf die Spitze. Er ermordet alle Käufer. Das Theater Hagen inszeniert die selten gespielte Oper von 1926 im Bauhaus-Jahr bewusst mit den Stilmitteln der neuen Sachlichkeit. Im Ergebnis steht ein spannender Widerspruch: Je mehr der Künstler die Gesellschaft stört, desto leichter lässt er sich nach seinem Tod messianisch verklären. Das Publikum im nicht gut besetzten Haus feiert enthusiastisch eine durchdachte Regie, großartige Sänger und ein mitreißendes Orchester.

Der Mord ist die höchste Form der gesellschaftlichen Unangepasstheit. Deshalb hat ETA Hoffmann den Goldschmied Cardillac als Prototypen des Künstler-Verbrechers in die Literaturgeschichte entlassen. Dieses Motiv der schwarzen Romantik ruft eigentlich nach einer Vertonung im Stile des zeitgenössischen Horrormärchens. Doch der Komponist Paul Hindemith prüft anhand des Cardillac-Stoffes, wie sich die Oper aus den Fesseln der spätromantischen Überladung auf eine knappe Form reduzieren lässt. Das Stück ist mit gut anderthalb Stunden ziemlich kurz, das Libretto von Ferdinand Lion steckt voller expressionistischem Symbolismus. Dagegen setzt der Komponist eine Art Bauhaus-Barock, eine musikalische Sachlichkeit, die vom Rückgriff auf Stilmittel des 18. Jahrhunderts geprägt ist.

Viele Anspielungen und Zitate

Oskar Schlemmer und Egon Wilden am Theater Hagen

Die sogenannte Hagener Bühnenreform ist in den 1920er Jahren eng mit dem rheinischen Expressionismus verbunden. Zum Glücksfall wird nicht nur die Verpflichtung des Malers Egon Wilden als Bühnenbildner ans Theater Hagen, auch das Engagement von Wolfgang Humperdinck als Opernregisseur sowie des späteren WDR-Intendanten Hanns Hartmann als Intendanten führen dazu, dass man sich in Hagen vom Illusionstheater zugunsten expressionistischer Raumlösungen verabschiedet.

Die späteren Tonfilmstars Rudolf Platte und Hermann Speelmanns prägen als Schauspieler das Ensemble; Wagner-Tenor Fritz Wolff startet von Hagen aus eine Weltkarriere. Brechts Dreigroschenoper kommt ein Jahr nach ihrer Uraufführung 1928 bereits nach Hagen und wird vom Publikum gefeiert.

Zum neuen Stil des Hauses gehört ebenfalls die Gründung eines Kammertanztheaters. Oskar Schlemmer gestaltet für Hagen in der Spielzeit 1928/29 Bühnenbild und Kostüme für die Pantomime „Vogelscheuchen“. Dieses Kammertanztheater hat übrigens bereits versucht, das Genre Ballett experimentell zu überwinden und kann als Vorläufer von Pina Bausch gelten.

Regisseur Jochen Biganzoli hat mit seinem Team in Hagen in der vergangenen Spielzeit einen bemerkenswerten Tristan inszeniert. Auch darin ging es um den Künstler und seine Einsamkeit. Nun findet er für den Cardillac eine ebenso gut gearbeitete und überzeugende Interpretation. Das Bühnenbild ist streng reduziert, statt Ausstattung gibt es Thesen aus Kunstmanifesten, Anspielungen auf die Schwarz-Weiß-Ästhetik des Stummfilms und viele Bauhaus-Zitate, zum Beispiel aus Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“. Cardillac selbst schreibt sich aus den Beschränkungen seiner Existenz heraus, hat aber auch die Kamera und das Mikro stets bei der Hand. Bariton Thomas Berau ist schon vor dem Anfang auf der Bühne präsent, er ist der Regisseur seines eigenen Schicksals, er dirigiert den Chor und lässt die Dame (Veronika Haller als Material Girl von Kopf bis Fuß in Goldlamé) und ihren Kavalier (Thomas Paul mit scharfen Hotpants) in den Rausch des Habenwollens taumeln. Er ist ein Erbe des Daidalos, der mit seinem Schaffen die Naturgesetze überwinden wollte, der in der Sage lebensechte Figuren gestalten konnte. Und so geht es dem Publikum wie dem Chor: Der Künstler fasziniert selbst noch als Verbrecher.

Der Hagener Opernchor in einer Szene von „Cardillac“.
Der Hagener Opernchor in einer Szene von „Cardillac“. © Theater hagen | Klaus Lefebrve

Diese Spannung zwischen Entsetzen und Attraktion beherrscht auch die Tochter des Goldschmieds, die er nicht lieben kann, und die trotzdem an ihn gefesselt ist. Sopranistin Angela Davis singt dieses ambivalente, zerstörerische Beziehungsmodell mit wunderbar inniger Unangestrengtheit und herrlichem Timbre. Milen Bozhkov ist mit strahlendem Tenor als Offizier das Alter Ego Cardillacs, genauso selbstbezogen, aber sein Antrieb kommt aus dem Sex und nicht aus der Kunst. Der gut einstudierte Chor verkörpert eine kritische Masse, die Moralurteile fällen will, ist also gefährlich.

Große Flötenserenade

Katalysator für Hindemiths intensive Auseinandersetzung mit dem Expressionismus war der Kontakt zu dem Bildhauer und Dramatiker Benno Elkan (Dortmunder und Gründer des ältesten Dortmunder Fußballvereins). Elkan fordert die Preisgabe jeder Annäherung an die Wirklichkeit auf der Bühne. Daran orientiert sich Jochen Biganzoli; die Inszenierung ist so abstrakt wie ein futuristisches Gemälde – und trotzdem brechen die Gefühle durch.

Hindemith vermeidet bewusst jeden Klangrausch; die große nächtliche Flötenserenade illustriert in ihrer berückenden Schönheit eben nicht nur die Liebesspiele von Dame und Kavalier, sondern auch den Mord an letzterem. GMD Joseph Trafton liest diese barocken Stilmittel aus dem Geist des Jazz, die Musik ist rhythmisch aufrüttelnd, und die Philharmoniker meistern die die vielfältigen Soloaufgaben hellwach und mit Bravour.

Verstörende Fragen

Das Ende klingt dann regelrecht sakral, und Jochen Biganzoli findet dafür ein großartiges Bild, das sowohl die Erlösungserwartungen der Künstlerverehrung herausstellt als auch des Künstlers Sehnen, der Erdhaftung zu entfliehen. Damit bleibt eine verstörende Frage offen: Warum ist uns dieser Mörder so sympathisch, obwohl doch Komponist und Regie alles tun, um Distanz zu wahren?

„Cardillac“ ist ein sprödes Stück, aber wer keine Angst hat, sich für die Länge eines Fußballspiels einem musikalisch erstklassigen, sehr schlüssig und aufregend inszenierten Opern-Experiment auszusetzen, sollte die Inszenierung in Hagen nicht verpassen.

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