Mülheim. Premiere mit Panne, aber abenteuerlich rasantes Theater: Enzensbergers „Titanic“ erlitt im Theater an der Ruhr einen ungeplanten Schiffbruch.

Dass dem Anfang ein Zauber innewohnt, wer glaubt das noch? Aber welche Magie liegt im Untergang, erst recht, wenn man zu den Zuschauern zählt! Ein Schiff sinkt, und im Mythos gewordenen Fall der Titanic können wir seit 107 die Augen nicht abwenden davon. Hans Magnus Enzensberger, 90 Jahre bald, hat vor 40 Jahren davon erzählt – mit seinen fast vergessenen 33 Gesängen eröffnet das Theater an der Ruhr die Spielzeit.

Schiffbruch, pardon, erleidet der Abend ganz unfreiwillig früh. Es spielt das Ensemble kaum mehr als ein Viertelstündchen, da wird ein Pausen-Anker gelichtet. Die Drehbühne, die wir als Schicksalsgemeinschaft mit dem Parkett haben tauschen müssen, sie schafft es nicht. Maritimes Interludium: Windstille, ein Freigetränk aus Ratlosigkeit, ganz bestimmt nicht inszeniert. Dann Worte von der Kommandobrücke in Form des Theaterdirektoriums. Es sei – welches grandiose Gleichnis für die Geschichte, die heute Abend erzählt werden soll – unerwartet nicht Platz für alle. Mehr noch: Der Theatertanker komme nur wieder in Fahrt, wenn knapp 30 Premieren-Passagiere von Bord gingen. Zusagen von warmem Essen, Freikarten auch. Der Mensch: zu schwer für die Kunst!

Die Drehbühne, erleichtert um 30 Premieren-Passagiere, kreist als Schiff im Nebel

Und die Leute (gäbe es das im feinen München?) melden sich, es geht ganz schnell. Niemand klagt. Und wir, eine Elite, die nicht dafür kann (bleiben dürfen die Weitgereisten und Theaterkritiker) bleiben an Deck. Es werden 105 pausenlose Minuten in einem rasanten Coup. Auf die Spitze treibt unseren Voyeurismus unser Platz: Wir sind das Schiff und kreisen, im Dunkel, im Nebel, unter dem beängstigenden Geknurr mürber Taue, der Katastrophe entgegen. Nur noch ein paar Hundert Seemeilen bis Neufundland, aber der Tod ist längst da. Wir rotieren in diesem Raum (Ramallah Aubrecht) an den Spielern vorbei. Die sind Eisberg und Enzensberger, Maat wie Mütterlein – und Dante, Endzeitspezialist und Leuchtturm im roten Renaissancerock.

Alle sprechen über alles, denn lange vor Jelinek schuf Enzensberger das theatralische Textmassiv als Steinbruch. Ironisch ist das, auf trockene Weise verzweifelt, verrätselt und, mitunter recht erwartbar, kapitalismuskritisch, „ganz unten, wo man, wie immer, zuerst kapiert“. Die List indes, die Philipp Preuss in seiner Inszenierung anwendet, verführt uns auf beängstigend unterhaltsame Weise. Das Ganze ist eine apokalyptische Karussellfahrt und das Ensemble (herausragend Petra von der Beek und Klaus Herzog) uns so verführerisch nah in Lebensgier, Dekadenz und kaltschnäuzigem Weiter-So, dass wir es einfach nicht schaffen, nach dem Rettungsring der Distanz zu greifen.

Ein starker, abenteuerlicher Abend mit klitzekleinen Spannungslöchern

Preuss, der das finstere Amüsement mit Live-Musik anfüttert und das Eitle Enzensbergers mit süßen Gemeinheiten torpediert, liefert einen starken Abend. Klitzeklein ein paar Spannungslöcher, groß das Abenteuer. Theater als Erlebnis wie im Filmpark ein paar Kilometer weiter: verwerflich? Nein, ab und an muss die moralische Anstalt auch mal den großen Zauberkasten öffnen. Und wie wir uns schließlich beim Glanz in den eigenen Augen ertappen, da gibt man nicht mal ungern zu: Dieser Abend hat uns eisbergkalt erwischt.

Die nächsten Termine: 4./5./6. & 20.10. www.theater-an-der-ruhr.de