Essen. Leiden an der Uneinigkeit des Reviers: Stefan Laurin („Ruhrbarone“) beklagt in seinem Buch „Versemmelt“, die Region werde drittklassig regiert.

Kaum jemand dürfte sich durch den Offenbarungseid des Regionalverbands Ruhr (RVR) so bestätigt gefühlt haben wie Stefan Laurin. Seine Streitschrift „Versemmelt“ mit dem Untertitel „Das Ruhrgebiet ist am Ende“ ist noch druckfrisch – und darin hält der Journalist und Betreiber des Revier-Blogs „Ruhrbarone“ nicht nur dem RVR und seinem Personal Unfähigkeit vor, sondern versucht auch eine Art Problemanalyse.

Klar benennt Laurin den Gegensatz zwischen äußerem Erscheinungsbild des Reviers, das schon Anfang des 20. Jahrhunderts als eine einzige Stadt empfunden wurde, und der gelernten Mentalität seiner Bewohner, die von Zechen und Stahlbetrieben derart rundumversorgt wurden, dass sie sich gar nicht erst aus ihren Stadtvierteln herausbewegen mussten: „Schon in die Innenstadt kleinerer Städte fuhr man nur zu besonderen Anlässen.“ Nachfolger im paternalistische Herrschaftssystem der Montan-Konzerne sei im Zuge der Krise seit den 60er-Jahren die SPD geworden, die Subventionen und Posten verteilt habe.

„Politisch ist das Ruhrgebiet ein Zwerg“

Die Orientierung am Tellerrand als Horizont setzte sich an der Spitze einer jeden der schnell gewachsenen Ruhrgebietsstädte zwischen Duisburg und Dortmund fort: Niemand hatte ein Interesse daran, die eben gewonnene Macht an eine höhere Instanz abzugeben. So war der 1920 gegründete Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, der Vorläufer des heutigen RVR, von Anfang an ein zahnloser Tiger, eine „lose Klammer“. Die starken Oberbürgermeister achteten darauf, dass der RVR und seine Vorläufer nicht mit durchsetzungsstarken Politikern besetzt wurden, sondern mit gefügigen Verwaltungsbeamten. Und so gilt bis heute: „Politisch ist das Ruhrgebiet ein Zwerg.“

Laurin leidet spürbar unter der mangelnden nationalen wie internationalen Wahrnehmung des Reviers, wie überhaupt seine Streitschrift im Duktus einer massiv enttäuschten, aber heftigen Zuneigung daherkommt. „Das Ruhrgebiet“, lautet der Vorwurf im Hinblick auf den Regionalplan, „hat seine Selbstbestimmung nicht genutzt, um Impulse für mehr Wachstum zu setzen.“ Die meisten Politiker übten sich weiter im Fördertopfschlagen, statt nach Investoren zu suchen. Und die Fähigeren von ihnen wechseln zu einem der zahllosen städtischen Konzerne, deren Geflecht eine dichte Filzdecke über das Revier gelegt habe. Dass jede Stadt alle Aufgaben der Daseinsvorsorge für sich erledigen will, lässt die Verflechtungen zwischen der jeweiligen Politik und städtischen Konzernen wachsen und gedeihen – ein einziges Stadtwerk fürs Revier ein Wohnungsbau-Unternehmen oder ein Verkehrsbetrieb würde dutzende Stadträte entmachten.

Hohn über die „Metropole der besonderen Art“

So weit, so bekannt. Die Frage ist, ob tatsächlich so viel von der Qualität des politischen Personals abhängt – wenn das so wäre, würde Berlin heute so dastehen, wie es dasteht? Nach Momper, Diepgen und Wowereit? Dass sich die Verantwortlichen das Ruhrgebiet als „Metropole der besonderen Art“ schönreden, erledigt Laurin mit dem lakonischen Hinweis, dass Metropolen Orte der Innovation sind, die Menschen aus aller Welt anziehen („Nach dieser Logik ist auch ein Posaunentrio ein Symphonieorchester der besonderen Art“).

Aber das Leiden daran, dass eine Fünf-Millionen-Region unter ihren Möglichkeiten regiert und dargestellt wird (nach einer langen Ära, in der das so gewollt war, weil alles dem Willen zur ungestörten Ausbeutung von Natur und Mensch untergeordnet wurde) trübt nicht Laurins Blick für die Verhältnisse: „Das Ruhrgebiet ist kein Markt. Es ist eine Ansammlung einzelner Märkte.“ Es hat daher erfolgreich bisher immer nur unter Zwang zusammengearbeitet; als Beispiel führt Laurin die Emschergenossenschaft an. Die Erfahrung fruchtbarer freiwilliger Zusammenarbeit durch die Kulturhauptstadtjahr sei nach 2010 wieder verpufft. Und: „Zu viele profitieren von der Zersplitterung des Ruhrgebiets.“

„Das Ruhrgebiet wird in wenigen Jahrzehnten nicht mehr existieren“

Ob aber das Ruhrgebiet wirklich besser führe, wenn es zur „Ruhrstadt“ würde? Ob es nicht ausreichen würde, eine zukunftsorientierte Regionalplanung und ein vernünftiges, zweckdienliches Verkehrssystem einzurichten? Und dafür eine übergeordnete Institution zu schaffen, die den RVR und den Verkehrsverbund Rhein Ruhr ersetzt?

Laurin glaubt nicht daran. Die Frage, ob das Revier nach dem Ende von Kohle und Stahl gute Zukunftschancen hatte, verneint er ohnehin. Es sei eine klassische Goldgräberregion, die wieder aufgegeben werden, wenn der Rausch vorüber sei: „Das Ruhrgebiet wird in wenigen Jahrzehnten nicht mehr existieren.“

Stefan Laurin: Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende. Verlag Henselowsky Boschmann, 96 S., 9,90 Euro.