Wuppertal. Keine antiken Helden. Ein Clan hat in Strawinskys „Oedipus Rex“ Leichen im Keller. Der Kommissar weiß, dass man ihm etwas vorspielt.
Die Braut liegt in ihrem Blut, die Hochzeitsgesellschaft hat ein paar Leichen im Keller, und der namenlose Kommissar wird hysterisch beim Versuch aufzudecken, was an der Geschichte nur gespielt sein mag. Eine Kinderrassel ist das wichtigste Indiz in diesem Opernkrimi. Sie führt direkt zu Ödipus. Die Oper Wuppertal koppelt zwei Strawinsky-Werke zu einem Doppelabend, die Tanzkantate „Les Noces“ (Die Hochzeit) und das Opern-Oratorium „Oedipus Rex“, das den Ur-Mythos der Literatur erzählt, die Sage des Helden, der aus Unwissenheit seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet, nachdem er aufgrund eines Orakels im Säuglingsalter von den Eltern ausgesetzt worden war. Gewiss ist es mutig, die Spielzeit mit vergleichsweise unbekannter Musik zu eröffnen statt mit einem Blockbuster a la Tosca. Der Saal ist entsprechend kaum voll, doch das Publikum reagiert begeistert auf eine Produktion, die unerwartet intensiv und spannend ist und viel Erkenntnisgewinn birgt.
Vatermörder und Mutterschänder
Der junge russische Regisseur Timofey Kulyabin aus Nowosibirsk ist eine Entdeckung des Wuppertaler Opernintendanten Berthold Schneider. Sein Wuppertaler „Rigoletto“ war vor zwei Jahren der Startschuss zu einer sensationellen Karriere. Nun verortet Kulyabin den Ödipus-Mythos in das randständige Milieu eines südosteuropäischen Clans mitten in einer westlichen Großstadt. Man feiert die Hochzeit zwischen Ödipus und Iokaste nach den alten dörflichen Riten der ehemaligen Heimat; die sind aber längst zur Folklore abgesunken und haben ihre soziale Funktion verloren. Die Anzüge einiger Männer glänzen etwas zu sehr; der Clan verdient sein Geld wohl nicht nur mit legalen Mitteln. Kulyabin und sein Team erschaffen aus dem Opernchor und den Solisten eine regelrechte soziale Skulptur, Bilder und Personenführung sind derart fein gearbeitet und differenziert, dass sie bereits ohne Musik eine Geschichte erzählen.
Hämmernder Beat von vier Klavieren
Strawinskys „Noces“ mit ihrem hämmernden Beat von vier Klavieren treibt die Handlung unerbittlich auf den Höhepunkt zu, die von unheilvollen Omen begleitete Vermählung zwischen Ödipus und der Königin Iokaste. Dabei hat die Musik wohl die Idee zur Verortung der Inszenierung geliefert, denn bei dieser Sammlung altrussischer Hochzeitsriten setzte der Komponist keine Volksmusik ein; das einzige authentische Thema ist ein Arbeiterlied, also Stadtkultur.„Oedipus Rex beginnt mit einem orchestralen Paukenschlag. Die Hochzeitsgäste sind erkrankt und flehen den neuen Clanchef um Rettung an. Der aufmerksame Zuschauer hat aber möglicherweise beobachtet, dass dieser Bräutigam bereits in den „Noces“ zwei Tütchen mit weißem Pulver in den Kessel mit dem Punsch gekippt hat.
Kapellmeister Johannes Pell und die Wuppertaler Sinfoniker spielen den mit Pause gut zweistündigen Abend wie mit einem einzigen atemlosen Herzschlag. Die anspruchsvollen Farbwirkungen Strawinskys, die Turba-Effekte und die Choräle werden fein herausgearbeitet, doch in der Tiefenschicht grundiert das Orchester die Handlung mit einem Rhythmus, der keinen Ausweg aus der Katastrophe zulässt.
Ein Wettlauf mit dem Mythos
Regisseur Kulyabin inszeniert den Doppelabend als Wettlauf zwischen den rückblickenden Ermittlungen des Erzählers/Kommissars (Gregor Henze) und der Ereigniskette des antiken Mythos’. Dafür hat Oleg Golovko eine Simultanbühne mit drei Ebenen gebaut. Der Chor übernimmt die Hauptrolle und singt einfach großartig. Die wunderbare Mezzosopranistin Almuth Herbst spielt als Iokaste solange die Braut, bis die Dinge aus dem Ruder laufen, dann wird sie zur Matriarchin, wild und voller Furcht, mit großen raumfüllenden Bögen. Bariton Simon Stricker ist als Kreon ein wieselglattes Betamännchen, immer bereit seinen Vorteil aus einer Situation zu ziehen. Mirko Roschkowski, der gefeierte Erik aus dem Hagener „Fliegenden Holländer“, legt den Ödipus faszinierend vielschichtig und konsequent an und gestaltet die Partie mit so vielen Nuancen und Zwischentönen, dass sich erneut beweist: Hier wächst eine große Tenorhoffnung heran.
Am Anfang sehen wir Ödipus nur als Helden/Straßenkämpfer, ein bisschen zu eitel vielleicht und daher möglicherweise harmlos. Der entpuppt sich als Vatermörder und Mutterschänder. Und während Ödipus im Schlafzimmer der toten Iokaste einen Altar für den als Kleinkind ausgesetzten Sohn, also sich selbst, entdeckt, zieht der Kommissar aus der Babyrassel endlich die richtigen Schlüsse. Was wäre, wenn die Sache mit dem Fluch, also das ganze Drama, nur Theater wäre, Camouflage für ein viel abgründigeres Verbrechen? Selten war Oper so spannend.
„Les Noces / Oedipus Rex“ wird in Wuppertal insgesamt nur viermal gezeigt. Wieder am 29. September, 19. Oktober, 8. November. Www.oper-wuppertal.de