Deutschland schickt einen so aufwühlenden wie unkonventionellen Beitrag ins Oscar-Rennen: „Systemsprenger“ kommt jetzt in unsere Kinos.

Was ist das bloß für ein Kind? Gerade noch war Benni lieb und nett, und im nächsten Augenblick rastet sie aus. Erst fliegen die Fäuste, dann die Fetzen. Wenn Benni explodiert, erstarrt die Welt der Erwachsenen in Hilflosigkeit. Wie kann das sein bei einem Mädchen von gerade einmal zehn Jahren? Was ist das für ein Lebensweg, dessen Stationen überall nur dahin enden, dass ein Kind als hoffnungsloser Fall abgelehnt und weitergeschoben wird?

Über Jahre vertiefte sich Nora Fingscheidt für ihren ersten abendfüllenden Spielfilm in das Thema, dem der Film seinen Titel verdankt. „Systemsprenger“ sind verhaltensauffällige Kinder, denen mit herkömmlichen Erziehungsgedanken und Verhaltensnormen nicht beizukommen ist. Die Renitenz des Mädchens, das seinen Namen Bernadette „voll doof“ findet, resultiert bei Nora Fingscheidt aus dem Schlüsselerlebnis, dass ihr im Kleinstkindalter wegen Bettnässens die verschmutzte Windel ins Gesicht gedrückt wurde. Ein Mangel an persönlicher Betreuung durch die junge Mutter, Missbrauch durch ihre Lebenspartner und zwei deutlich kleinere Geschwister haben Bennis Bedürfnis nach Zuwendung pervertiert.

Lediglich eine Mitarbeiterin des Jugendamts (Gabriela Maria Schmeide) und Anti-Gewalttrainer Micha (Albrecht Schuch) begreifen Bennis Verhalten als Hilfeschrei einer verzweifelten Seele. Doch selbst diese Helfer geraten angesichts der unberechenbaren Wutausbrüche mit ihren Gewalt- und Verbalexzessen an die Grenzen der ihnen verfügbaren Möglichkeiten.

„Systemsprenger“ kommt ins Kino. Der Film über ein Mädchen, an dem normale Erziehungsmethoden scheitern, rüttelt auf

Wäre dies ein Dokumentarfilm, so zeigte er eine Fallstudie von bestürzender Radikalität. Das blonde Mädchen, das einen vom Plakat her aus rosa Kapuzenpulli anschaut, ist jedoch eine Schauspielerin, und das erhöht den Grad der Verstörung, den dieser Film auslöst, um ein Vielfaches. Mit einer Intensität, die in ihrer Unmittelbarkeit kaum zu fassen ist, hat Helena Zengel ihre Rolle durchdrungen. Mal sieht man buchstäblich einen Teufel in Kindergestalt, dann wieder ein völlig normales Mädchen, das brav den Tisch deckt, liebevoll kleinere Kinder bekümmert oder herrlich unbefangen über jüngst Erlebtes plappert.

Immer aber ist in den Augen eine zutiefst verletzte Seele erkennbar, die ihren inneren Druck nicht kontrollieren kann, sobald sie mit Enttäuschung konfrontiert wird oder ihr jemand ins Gesicht fasst. Es ist nur schwer zu begreifen, dass Helena Zengel während der Dreharbeiten erst zehn Jahre alt war. Ihre schauspielerische Leistung ist allerdings untrennbar verbunden mit der Arbeit der Regisseurin, die das Kind mit höchster Sensibilität in sogenannten Schauspielduschen morgens in die Rolle hineinführte und nachmittags zurück ins Leben.

In der Titelrolle von Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ berührt Helena Zengel - bei den Dreharbeiten war sie nur zehn Jahre alt

Wer hat schon Lust auf einen Film über eine renitente Göre? Diese Frage schien auch 2006 gerechtfertigt, als Hannah Herzsprung in „Vier Minuten“ eine zur Gewalt neigende Pianistin spielte; und dann sprach sich herum, was für ein schauspielerisches Kraftwerk dieser Film war. Genau diese Effekte stellen sich jetzt auch bei „Systemsprenger“ ein, der als deutscher Beitrag für den besten Auslandsfilm ausgewählt wurde. Die sonst favorisierten Filme mit deutsch-historischen Themen („Deutschstunde“, „Und der Zukunft zugewandt“) erhielten eine klare Absage zugunsten einer Produktion, die ihren Mangel an Budget mit Herz und unbändiger Dynamik in allen Kreativabteilungen wettmacht. „Systemsprenger“ ist eben nicht bloß thematisch wertvoll, er bietet auch kraftvolles, mitreißendes Kino am Puls der Zeit. Hier ist ungeplant ein ganz großer Wurf möglich.