Bochum. Norbert Lammert las aus dem 1992 erschienenen, immer noch gültigen Essay „Die große Wanderung“ – und die Ruhrtriennale verschenkte eine Chance.

„Die Lage ist zu gefährlich geworden, als dass man sie Politikern und Demagogen überlassen könnte“, schreibt Hans Magnus Enzensberger im Vorwort zur Neuausgabe seines Essays „Die große Wanderung“ – und dass sein 1992 erschienener Text immer noch nicht veraltet sei, halte er für ein schlechtes Zeichen. Enzensberger, der in zwei Monaten 90 wird, schrieb den Text nach ausländerfeindlichen Exzessen in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln, um klarzustellen, dass Migration in der Geschichte der Welt nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall war und dass Nationen gerade einmal 200 Jahre alte Konstrukte sind und blutjung im Vergleich zu Gesellschaften, die in Familien, Stämmen und Clans organisiert seien.Enzensberger geht das Problem in seinen „33 Markierungen“ aber nicht nur aus der Makro-Perspektive an, sondern erschließt in luzider Psychologie die Mechanismen (und die Vergänglichkeit) von Fremdenfeindlichkeit am „Eindringen“ von weiteren Passagieren in ein Zug-Abteil.

Der klare Denker und der glänzende Redner

Dass dieser Text nach Jahrzehnten noch einmal erschien, verdankt sich auch einem Anstoß von Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert – da war es nur folgerichtig, dass er diesen Text am Sonntag bei einer Matinee der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle las. Der klare Denker Enzensberger und der glänzende Redner Lammert – eine ideale Kombination. Kein Wunder, dass die Lesung verlegt werden musste, fast 500 Zuhörer fanden sich ein zu dieser nüchternen Messe für das gedachte und gesprochene Wort.

Allerdings wäre es noch besser gewesen, wenn es auf der Grundlage von Enzensbergers Klarstellungen noch ein Gespräch gegeben hätte, ganz gleich, ob auf dem Podium oder mit dem Publikum. Die Frage nach den Schlussfolgerungen aus Enzensbergers Befunden für die heutige Situation und für politisches Handeln, das die Lage nicht Politikern und Demagogen allein überlässt, blieb leider unbeantwortet.