Essen. Das Album „Rubberband“ der US-amerikanischen Jazz-Legende Miles Davis lag mehr als dreißig Jahre in einem Archiv. Jetzt ist es als CD erhältlich.
John Coltrane, Bill Evans und andere: In jüngster Zeit halten erstaunliche Neuveröffentlichungen alter Giganten die Maßstäbe im Jazz hoch. Archivschätze als Vergewisserungshilfen, Orientierungsmarken. Dass nun auch eine bis dato unbekannte Miles Davis-CD auftaucht, war nicht zu erwarten und ist zunächst einmal ohne Wenn und Aber zu feiern.
Mitte der Achtziger verließ der Trompeter überraschend das Columbia-Label, das drei Jahrzehnte seine künstlerische Heimat war, und wechselte zu Warner. Er tat es wohl, um dem Pop einen Schritt näher zu sein. Mr. Davis liebte Popularität und wollte in größerem Rahmen bemerkt werden. Also probte er unter dem Signum „Rubberband“, wobei er sich auch an Scritti Politti, Toto und Prince orientierte. Mit zumeist neuen Musikern und einigen alten Bekannten wie dem Gitarristen Mike Stern oder Keyboarder Adam Holzman ging er auf die Spielwiese und experimentierte mit Funk, Soul, Rock, Calypso, Latin und natürlich Jazz, bei vielen Stücken mit den Stimmen von Chaka Khan und Al Jarreau im Kopf. Der große Miles Davis (1926–1991) schielte nach MTV.
Das Album „Rubberband“ schlummerte mehr als dreißig Jahre in den Archiven
Die Dinge gediehen weit, doch irgendwie sah Produzent Tommy LiPuma den neuen Star in seinem Stall woanders. Und wahrscheinlich war es dann auch die richtige Entscheidung, dass zunächst das in einer Zusammenarbeit mit Bassist Marcus Miller entstandene, in sich geschlossenere und schlicht überzeugendere Album „Tutu“ erschien im Jahr 1986. Dass aber „Rubberband“ mehr als dreißig Jahre in den Archiven schlummerte, ist dennoch kaum nachvollziehbar. Es verblüfft umso mehr, weil 1992 schon postum „doo-bop“ erschienen war, wobei Hip-Hopper und Produzent Easy Mo Bee in einem mindestens fragwürdigen Unterfangen Trompetenlinien unter seine Sounds gemischt hatte.
In diesem Kontext wirkt „Rubberband“ deutlich organischer. Es dokumentiert einen nächsten Schritt im an nächsten Schritten reichen Musikerleben des Miles Davis.
Miles Davis ist innerhalb der Musik des 20. Jahrhunderts zur Ikone geworden
„Für mich sind viele alte Jazzmusiker faule Arschlöcher, die … an der Tradition festhalten, weil sie zu bequem sind, was anderes zu probieren.“ Er hat in seiner gut vierzig Jahre umspannenden Musikerkarriere vieles ausprobiert. Und alles ist ihm gelungen. So ist er innerhalb der Musik des 20. Jahrhunderts zur Ikone geworden, an der sich inzwischen keine Geister mehr scheiden. Zu sehr war er das unverwechselbare Gravitationszentrum, dessen Werk man gar nicht überschätzen kann, weil keiner für so viele Jazzetappen stilbildend war: Bebop, Cool-Jazz, Hard-Bop, Electric-Fusion und später dann eben auch Pop.
Auf der einen Seite haben wir die imagesüchtigen Maskeraden hinter großen Sonnenbrillen, hinter Luxus, aufwendig bunten japanischen Designeroutfits, Frauengeschichten und weißen Sportschlitten. Schroffe Arroganz als Signum für den Stolz des Afroamerikaners, der seine Leute suchte und doch immer wieder bei einer europäischen Konzert-Elite landete, die er verachtete, doch deren Geld er brauchte. Darum die legendären Auftritte mit dem Rücken zum Publikum: „Was soll ich denn sonst tun? Etwa lächeln?“
Keiner hat so unbestechlich die Stile erneuert wie Miles Davis
Auf der anderen Seite die Musik. Oder die Musiken. Definitiv keiner hat so unbestechlich die Stile erneuert, war so zuverlässig Anziehungspunkt und Inspiration für seine Zunft und über seine Zeit hinaus. Die Aura des Miles Davis schwebt heute ungebrochen über den Klängen in den weltweiten Clubs der Metropolen.
Es ist sein Ton, der sich durch die Dekaden zieht: lyrisch-verhangen und strahlend metallisch, eiskalt und melancholisch, verhaucht, intim und punktgenau, schwebend und doch immer ökonomisch nah am Kern. Trauer, Resignation, Aufruhr und die selbstsichere „Fähigkeit, bestimmte Jungs zu finden und damit eine chemische Reaktion in Gang zu setzen“. Die Jungs waren die besten, aber der Mittelpunkt blieb er.
„Rubberband“ mit zeitgemäßen Drumsounds, Gitarren und Keyboards
Das ist wieder so und macht die neuen Aufnahmen, durch die oft auch Miles‘ heiser-raue Stimme irrlichtert, so bemerkenswert. Da ist es verzeihlich, wenn die zum Teil um die jeweils einen Auftritt habenden Vokalisten Lalah Hathaway, Ledisi und Randy Hall ergänzten, aber letztlich doch ein wenig angestaubten Stücke eine aufwendige Post-Produktion erfuhren. Es wurden zeitgemäße Drumsounds, Gitarren und Keyboards hinzugemischt, um dem Ursprungsmaterial zu seinem Update zu verhelfen. Und über allem schwebt die Trompete des Meisters: markant und essenziell.
Miles Davis: Rubberband. Rhino/Warner Music