Gladbeck. Die zweite Premiere der Ruhrtriennale: In Gladbeck gab die Needcompany Einblick ins Leben einer Künstlerfamilie – mit schockierenden Momenten.

Wie kann Kunst, können Künstler vom Schmerz erzählen? Von dem, was in der Welt da draußen passiert? Oder sollte Kunst sich freimachen von allen Botschaften, sollte sie das Schöne feiern? In der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel erlebten die Zuschauer eine Künstlerfamilie mit all ihren Zweifeln, ihren Freuden und ihrer Wut: „All the good“ ist ein Stück, das vorgibt, mitten aus dem Leben zu erzählen, und dabei doch subversiv und provokant nach Sinn und Form aller Kunst fragt.

Seit über 30 Jahren arbeitet der Belgier Jan Lauwers mit seiner Needcomany, längst darf man sie als eine Art Gesamtkunstwerk betrachten: eine Gemeinschaft von Schauspielern, Tänzern, Musikern, (Lebens-)Künstlern aus aller Welt. In der aktuellen, in Kooperation mit der Ruhrtriennale entstandenen Produktion machte Lauwers nun erstmals diese Arbeit selbst zum Thema – ein biografischer Ansatz, der zwar in Mode ist (in der Literatur vom düsteren Norweger Karl Ove Knausgard bis hin zum selbstironischen Schauspiel eines Joachim Meyerhoff), aber, wie der Abend zeigt, durchaus noch innovatives Potenzial hat.

Jan Lauwers erzählt vom israelischen Soldaten Elik, der im Libanon kämpfte

Zu Beginn betritt Lauwers selbst die Bühne, stellt sich und seine Familie und sein schauspielerndes Alter Ego vor: Jan Lauwers also arbeitet an einer beweglichen Skulptur aus Glaskugeln, die ein Glasbläser in Hebron gefertigt hat; sie dominiert die Bühne, wird später traumschön von den Scheinwerfer vor der Halle illuminiert werden. Lauwers Ehefrau, Grace Ellen Barkey, ist Videokünstlerin und eine Freundin schöner Bilder (was Lauwers mit dem Satz abtut, die Welt verdiene aber keine Poesie mehr). Der Sohn, Victor Lauwers, lässt in einer alten Bäckerei die Schimmelblumen blühen, begeistert sich an ihrem Anblick im Morgenlicht – eine Synthese aus Schrecken und Schönheit, die die Positionen beider Elternteile aufs Frechste vereint. Die Tochter aber, Romy Louise Lauwers, bringt ihre neue Liebe Elik mit nach Hause: Elik Niv ist Israeli und hat als Soldat im Libanon gekämpft, nach einer ernsthaften Verwundung hat er umgeschult – und ist nun Balletttänzer.

Dieser Elik ist real, auf der Bühne und im Leben, das die Needcompany in einem Haus in Brüssels „Problemviertel“ Molenbeek verbringt (inklusive der etwas feuchten Backstube). Als 2016 die Bomben am Flughafen und in der U-Bahn explodierten, hatte Tochter Romy die U-Bahn-Station nur kurz zuvor verlassen. Diese beiden Einbrüche des echten Lebens, den fernen Krieg und den nahen Terror, verarbeitet Lauwers, ohne dabei den Pfad der selbstverordneten Subjektivität zu verlassen. Beginn und Ende markieren Sätze aus einem Roman, den Jan Lauwers begann und nie vollendete, nun aber wortreich und etwas umständlich erklärt – ein vorgeblicher Versuch, mit Gegenwartsliteratur die Anschläge zu verarbeiten und zugleich vom Wolf im Inneren jeden Menschens zu erzählen.

Werke der Kunstgeschichte - von Goya bis Picasso - sind die Szenen vorangestellt

Aber: „Wir können nicht alle Geschichten erzählen“, so unterbrechen die Protagonisten sich zu Beginn immer wieder, diskutieren, welches Narrativ, welche Sichtweise nun eine gute Story ergibt. Den einzelnen Episoden des zweistündigen, vielsprachigen und übertitelten Abends sind Kunstwerke zugeordnet, die Videokünstlerin Grace auf den Bildschirm überträgt, von Goyas Schreckensvisionen über Picassos „Guernica“ bis hin zur „Kreuzabnahme“ des flämischen Malers Rogier van der Weyden, das um 1440 enstand. Ein religiöses Werk, in dem Katholik Lauwers absichtliche Fehler entdeckt, die auf das Ringen eines Künstlers mit der Wahrheit hindeuten. Die Geschichte und das Leiden der Barockmalerin Artemisia Gentileschi, die als 18-Jährige vergewaltigt wurde und im von ihr daraufhin angestrengten Prozess noch dazu gefoltert, führt zu einer der schockierendsten Szenen des Abends – einer nachgespielten Vergewaltigung mit größtmöglicher Realitätsnähe.

Ohnehin ist die Needcompany frei von jeder Scham, um es mal so zu formulieren, über ebenfalls realistischen Sexszenen und sehr viel nackte Haut bis hin zu einer Videoperformance live aus dem Unterleib Tochter. „Dieses Bild trägt alle Bilder in sich“, so zeigt die Künstlertochter jubelnd ihr Werk vor, aber die Mutter bleibt gelassen: „Ach, du hast deine Vagina gefilmt“ – so wie Dutzende vor ihr. Gibt es doch in der Kunst nichts, was es nicht schon gegeben hätte.

Krieg und Terror – die Künstlerfamilie zerbricht an ihren Selbstzweifeln

Das sind hochkomische Szenen voller Energie, teils musikalisch begleitet (Marten Seeghers), teils von choreografierten Tanzeinlagen flankiert; dann aber implodiert die Künstlerfamilie: Ist Soldat Elik ein Mörder? Wie viele Menschen hat er getötet? Ein Tribunal wird abgehalten, in aller Hilflosigkeit, denn selbst zu einem individuellen Urteil kann keiner der Anwesenden sich mehr durchringen, geschweige denn zu einem gemeinsamen. Die Zerbrechlichkeit einer Gemeinschaft, die Selbstzweifel der intellektuellen Elite, selten sind sie so anschaulich geworden wie an diesem Abend. Ein Abend, der sich nicht immer sofort erschließt, aber dessen Bilder und Sätze nachhallen, nachwirken. Wie wohltuend, einfach einmal Fragen gestellt zu bekommen, ganz ohne vorgefertigte Antworten aus dem Lehrbuch politischer Korrektheit.