Bochum. Zerbrechliche Schönheit, Werke voller Spannung und Poesie: Viel Applaus für den Auftritt von Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr in Bochum.

Igor Levit am Klavier: Oft beugt er sich tief hinunter zu den Tasten, jedem Ton und Klang intensiv nachspürend. Mit äußerster Akribie formt er die Phrasen der Musik, gibt noch der allerkleinsten Nuance größtes Gewicht, und verliert doch nie die Form, den melodischen Fluss, die Kraft des Ausdrucks aus den Augen. Levit wirkt wie ein Tüftler, ein Konstrukteur. Am Ende aber beschenkt er uns mit Werken voller Spannung und Poesie.

Des Pianisten Werkstatt ist eine offene, gewährt Einblicke. Die intellektuelle Aura, die ihn umgibt, dient nicht der Abkapselung. Sein nunmehr zwölfter Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr beweist erneut, wie Konzentration auf und Hingabe an die Musik dem Publikum neue Welten erschließen kann. Levit beackert das weite Feld der (späten) Romantik, setzt dabei schlichte Schönheit neben dramatische Klüfte.

Mendelssohns Stücke als geheimnisvolle Schattengewächse

Als Entree dienen dem Solisten drei „Lieder ohne Worte“, deren schlichtes Melos er mit weitem Atem formuliert, ihre rhetorische Kraft entfaltet. Mendelssohns kurze Stücke sind geradlinig geformt, entpuppen sich unter des Solisten Händen indes auch als geheimnisvolle Schattengewächse. Manches wirkt wie dahingehaucht, und doch ist alles greifbar, wird nichts künstlich vernebelt.

Wie weit entfernt ist diese Schönheit von Gustav Mahlers stockender, schmerzerfüllter Suche nach den letzten Dingen, wie sie sich im Adagio der 10. Sinfonie manifestiert. Das Werk blieb, ein Jahr vor des Komponisten Tod begonnen, unvollendet. Nach den vorhandenen Skizzen und Entwürfen gab es manche Rekonstruktion; die Klavierfassung stammt von Ronald Stevenson. In Levits Interpretation gleicht die Musik einer Offenbarung, der sich das Publikum im ausverkauften Musikforum Bochum konzentriert hingibt.

Levit artikuliert in äußerster Klarheit

In diesem Adagio muss die Melodie, der Kern, erst gefunden werden. Der Pianist ertastet Ton um Ton, langsam formt sich ein Thema, ein weltabgewandter Gesang. Levit artikuliert alles in äußerster Klarheit, setzt Anflüge von Volkstümlichem neben schmerzliche Passagen, lässt Trauer und Trost aufschimmern, bevor die Klänge langsam dahinsterben.

Der expressive Ton, mithin Mahlers emotionale Entäußerung, findet schließlich in Schuberts später B-Dur-Sonate ihre nach innen gekehrte Entsprechung. Der ruhige, melancholische Gesang des Beginns klingt wie heile Welt – wären da nicht die unheimlichen Generalpausen oder das düstere Bassgrollen. Levit setzt alles subtil unter Spannung, errichtet andererseits mit dem Andante-Satz ein tönendes Gebäude bisher kaum gehörter, sensibler Kontemplation. Wie eine Befreiung wirkt dagegen das leicht dahinperlende Scherzo, dem Levit freilich ein kantiges Trio beigibt. Und auch das fast überschwängliche Finale ist nicht frei von markigen Ausbrüchen, von Zweifeln. Die zerbrechliche Schönheit der Romantik – der Pianist weiß genau um ihre Kraft. Riesiger Beifall.