Essen. Evgeny Kissin spielte einen souveränen, anspruchsvollen Beethoven-Abend beim Klavier-Festival Ruhr in Essen – Standing Ovations und drei Zugaben.
Evgeny Kissin schenkt sich und dem Publikum mit wachsender Reife von Jahr zu Jahr weniger. Kompromisslose Konzentration und Strenge weichen seinem Klavierspiel mittlerweile nicht einen Takt lang von der Seite. Selbst wenn er sich Schubert oder Chopin vornimmt. Erst recht nicht, wenn er einen ganzen Abend Ludwig van Beethoven widmet wie jetzt bei seinem fünften Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr in der ausverkauften Essener Philharmonie.
Dabei erhalten selbst viel gespielte Sonaten wie die „Pathétique“, „Der Sturm“ oder die „Waldstein“-Sonate Konturen von ungewohnter Härte und Prägnanz. Selbst von den lyrisch gefärbten Seitensätzen lässt sich Kissin nicht zu entspannenden Atempausen verleiten. Umso schärfer meißelt er Tempo-Kontraste aus dem Notentext. Etwa zwischen den wuchtigen Auftakt-Akkorden zur „Pathétique“ und ebenso rasant wie präzis stürmenden Passagen im Sprint-Tempo.
Ohne vorgetäuschte Bedeutungsschwere eines Lang Lang
Dass er dabei seine ausgefeilte Anschlagskultur nicht vernachlässigt, bewies er mit dem Anfang der „Sturm“-Sonate. Luftig aufgelöste Akkorde, die einen harfenartigen Schimmer annehmen, kontrastieren mit gestählten Repliken. Die Brüche nehmen stellenweise geradezu manieristische Dimensionen an. Allerdings verliert Kissin nie die formale Übersicht aus den Augen, so dass der Zusammenhalt der Sätze immer gewahrt bleibt und nicht zerbröselt wie bei seinem Kollegen Ivo Pogorelich oder, wie bei Lang Lang, durch eine hohle, aufgesetzte Bedeutungsschwere vorgetäuscht werden muss.
Ein riskantes Vorgehen, das sich Kissin mit seiner pianistischen Klasse und musikalischen Intelligenz leisten kann. Auch angesichts der großen Dimensionen der „Waldstein“-Sonate. Und damit darf er es sogar wagen, mit einer Interpretation der „Eroica“-Variationen seine kompromisslose Ästhetik auf die Spitze treiben. Eine Interpretation, die in ihrer beinharten Konsequenz wie in Marmor gemeißelt wirkt und dem an sich tänzerischen Thema eine Größe verleiht, die dem programmatischen Gehalt im Umfeld von Beethovens Prometheus- und Napoleon-Verehrung entgegenkommt.
Schöne Hoffnungen auf den Kissin des anstehenden Beethoven-Jahrs
Gelegenheit zum Zurücklehnen schenkt Kissin damit sich und dem Publikum nicht. Ein eigenwilliger, diskussionswürdiger Vorgriff auf das kommende Beethoven-Jahr, der die Hoffnung nährt, dass selbst bekannte Werke des Bonner Meisters noch viel Luft für individuelle Sichtweisen bieten. Zumindest in den Händen eines Musikers vom Rang eines Evgeny Kissin. Standing Ovations für einen angenehm anstrengenden Beethoven-Abend, und Kissin bedankte sich ohne jede Konditionseinbuße mit drei Zugaben.