Essen. Das Wettlesen um den Bachmann-Preis beginnt: Germanistin Alexandra Pontzen erklärt die Wechselwirkungen von Geld, Öffentlichkeit und Kunst.
Am heutigen Mittwoch werden die 43. Tage deutschsprachiger Literatur in Klagenfurt eröffnet. Das Wettlesen um den Bachmann-Preis gehört zu den ungewöhnlicheren Formen, Literatur zu ehren. Übersicht über die Literaturpreis-Landschaft gewinnt derzeit ein Forschungsprojekt an der Universität Essen: Die Germanistin Alexandra Pontzen (51) erklärt im Gespräch mit Britta Heidemann die Wechselwirkungen von Geld, Öffentlichkeit und Kunst.
Frau Prof. Pontzen, wie viele Literaturpreise gibt es in Deutschland?
Alexandra Pontzen: Wenn wir 1000 ansetzen, ist das sicher nicht verkehrt. Darin nicht enthalten sind Stipendien, Stadtschreiber, Poetik-Dozenturen. Dazu eröffnen viele Preise mehrere Sparten, haben Förder- oder Genre-Preise. Da kommen wir kaum nach mit dem Zählen.
Das ist enorm.
Schon vor 60 Jahren wurde gestöhnt, jetzt haben wir über 100 Literaturpreise, die entwerten sich doch gegenseitig! Genau das passiert aber nicht, solange jeder Preis ein Alleinstellungsmerkmal aufweist. Regionalität zum Beispiel: Wenn es einen Preis gibt für den besten westfälischen Krimi, kann es auch einen geben für den besten niederrheinischen Krimi. Dann sind wir auf Preise gestoßen, die gering dotiert sind, aber innerhalb eines Genres eine große Rolle spielen. Wir haben Autoren gefragt, welchen Preis sie gerne gewinnen würden, und festgestellt: Wenn ich Regionalkrimis schreibe, dann ist offenbar die „Herzogenrather Handschelle“ sehr attraktiv (lacht). Das zeigt, wie reichhaltig die Literaturpreislandschaft ist.
Gibt es Tendenzen, Strömungen?
Das untersuchen wir noch, aber natürlich gibt es Tendenzen. Es wurden etwa in den vergangenen Jahren um die 30 Preise ausgelobt, die sich auf europäische Ideale beziehen – über ganz Deutschland verteilt, aber mit starkem Schwerpunkt im Westen.
Welche Rolle spielt die Preislandschaft, wenn es um Existenzsicherung von Autoren geht?
Das muss man entromantisieren. Die Mehrzahl der Preise ist viel zu gering dotiert, um ein Autorenleben zu finanzieren. Selbst, wenn Sie den Büchner- oder Breitbach-Preis gewinnen, die je mit 50.000 Euro dotiert sind: Das Geld muss in der Regel versteuert werden – und diese Preise bekommen Sie nur einmal im Leben. Natürlich haben Preise Einfluss auf die Einladungen zu Lesungen, womöglich auf die Verkaufszahlen. Entscheidender aber ist der Ermutigungsaspekt. Außerdem ziehen Preise Kreise…
Inwiefern?
In den vergangenen Jahren sind zum Beispiel Kinder- und Jugendpreise wie die Pilze gesprossen. Diese holen oft gezielt Kinder und Jugendliche in die Jurys. Da erfahren die Eltern von dem Preis, vielleicht gehen sogar die Großeltern, die Schulkameraden zur Preisverleihung, weil ja unsere Julia in der Jury ist. So wird Literatur zum Gesprächsthema.
Bei vielen Preisen gibt es inzwischen die Long- und Shortlist – auch das schafft Öffentlichkeit.
Das ist tatsächlich ein neuer Trend, der Richtung Wettbewerb geht. In der Regel wird das begründet mit ökonomischen Gesichtspunkten. So wird aus dem Preis ein Wettbewerb im Stil der Olympiade, Germany‘s Next Topmodel für Autoren.
So verfährt der Bachmannpreis schon seit 43 Jahren…
Beim Bachmannpreis wird der Text gelesen, auch die Jurydiskussion ist öffentlich. Neu ist, dass die Performance der Lesungen in die Bewertung einfließt.
Das wurde früher kategorisch ausgeschlossen – es sollte nur um den Text an sich gehen.
Das ist die literaturkonservative Position, der auch ich nahe stehe und die noch immer von manchen Jury-Mitgliedern vertreten wird. Aber als 2015 die Entscheidung fiel, der Performance-Künstlerin Nora Gomringer den Bachmann-Preis zuzusprechen und sie 2018 sogar in die Jury geholt wurde, obwohl sie im Gegensatz zu allen anderen Juroren keinerlei literaturtheoretische Ausbildung hat – da war dies eben auch der Versuch, den Literaturbegriff zu erweitern, vielleicht zu verjüngen.
Sie haben selbst viel Jury-Erfahrung, entscheiden etwa mit über die Vergabe des Literaturpreises Ruhr: Spiegeln die Klagenfurter Diskussionen, was sonst hinter verschlossenen Türen passiert?
Beim Bachmann-Preis geht es um konkrete, kurze Texte, deshalb kann man es sich auch erlauben, sehr in die Tiefe der Textkritik zu gehen. Ich weiß von Exkursionen mit Studierenden, dass dies eine hohe Faszination hat, weil man auf Augenhöhe einsteigen kann: Man hat den Text selbst vor Augen, kann die eigene Meinung immer wieder justieren. Das könnte man mit Kochsendungen vergleichen: Früher wurden die von Starköchen bestritten, heute gibt es viele Formate auf Augenhöhe. Da denkt man als Zuschauer: Da kann ich mitreden, das habe ich auch schon mal gemacht! Die Diskussion der Bachmann-Jury nimmt Leser an die Hand: Plötzlich verstehe ich, warum dies besser ist als das.
Und doch ist das Votum der Jury am Ende oft überraschend.
Die Sonntagsrunde ist sicherlich die Spannendste. Niemand darf für die Kandidaten stimmen, die er selbst eingeladen hat. Damit ist schon klar, dass Allianzen nahe liegen. Ich glaube aber nicht an geheime Absprachen. Manchmal geht es auch darum, ob ein Autor noch Unterstützung und Ermutigung braucht – oder schon auf einem guten Weg ist. Entscheidend kann auch das Gefühl dafür sein, ob ein Autor Potenzial hat, obwohl dieser eine Text womöglich schlechter ist als der Text eines anderen. Dann wird der Mut belohnt, etwas gewagt zu haben.
Literatur im Fernsehen: Alle Lesungen werden live auf 3Sat übertragen
Eröffnet werden die 43. Tage der deutschsprachigen Literatur am heutigen Mittwoch um 18.30 Uhr mit der „Rede zur Literatur“, die diesmal Autor Clemens J. Setz halten wird. Die Lesungen und Diskussionen beginnen am Donnerstag (27.6.) um 10 Uhr und enden am Samstag (29.6.) um 14.30 Uhr. Am Sonntag ermittelt die Jury ab 11 Uhr die Preisträgerinnen und Preisträger. Der gesamte Wettbewerb wird von 3sat und auf bachmannpreis.ORF.at live übertragen.
Vorsitzender der siebenköpfigen Jury ist Hubert Winkels. Unter den 14 Autorinnen und Autoren sind fünf Deutsche: Martin Beyer (Berlin), Yannic Han Biao Federer (Köln), Ronya Othmann (Leipzig), Katharina Schultens (Berlin) und Daniel Heitzler (Berlin). Einer der ältesten Teilnehmer ist der Schweizer Tom Kummer, der als Journalist mit gefälschten Interviews auffiel. Neben dem mit 25.000 Euro dotierten Bachmann-Preis gibt es vier weitere Preise zu gewinnen.