Essen. . Bewegend: Peter Jacksons Film „They Shall Not Grow Old“ nähert sich mit unveröffentlichtem Material den Schrecken des Ersten Weltkrieges.
Man hätte es absehen können. Die Staaten Kontinentaleuropas befanden sich in einer gefährlichen diplomatischen Abwärtsspirale, und dass Österreich-Ungarn nach dem Mordanschlag auf Thronfolger Franz Ferdinand Serbien den Krieg erklärte, war nur folgerichtig. Frankreich, das zaristische Russland und das deutsche Kaiserreich griffen auch zu den Waffen.
Peter Jacksons persönliche Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges
Nur Großbritannien schien von all dem unberührt. Schließlich war das britische Empire die mächtigste Nation der Welt. Entsprechend groß war die Überraschung, als die Extrablätter am 4. August 1914 verkündeten, dass England dem Kaiser den Krieg erklärt. An diesem Punkt eröffnet Peter Jacksons („Der Herr der Ringe“) persönliche Aufarbeitung jenes Krieges, in dem sein Großvater William als Sergeant kämpfte. Es beginnt mit Ahnungslosigkeit und der naiven Begeisterung, dass es schon gut gehen wird. Stimmen erklingen aus dem Hintergrund, die aus Tagebüchern und Briefen zitieren: Sätze wie „Uns wurde vermittelt, dass ein Engländer so viel wert ist wie zehn Deutsche.“ Oder „Denken stand Männern nicht zu in jenen Tagen. Man bekam gesagt, was zu tun ist, und dem folgte man dann.“ Die Soldatenperspektive spiegelt die Befindlichkeit vor 105 Jahren, den kollektiven Glauben an einen zivilisierten Krieg.
Die Bewegungen werden flüssig, das Bild wird farbig
Man erlebt die Begeisterung der meist noch minderjährigen Rekruten, die Überfahrt nach Frankreich in Schwarzweiß und jenen etwas abrupten Bewegungen, die unvermeidlich sind bei einer Projektion von 13 Bildern pro Sekunde, wie das in den 1910er Jahren üblich war. Nach 24 Minuten zieht das Bild auf. Die Bewegungen werden flüssig, das Bild wird farbig in jenen Pastelltönen, die auch im frühen Zweistreifen-Technicolor vorherrschten, nun noch ergänzt um Blautöne.
Man hört Stimmen, die zu den Bildern passen, weil Lippenleser aus den digital bereinigten Bildern Dialoge destillierten. Und je nach Auslieferung der Kopie, ist der Film sogar in 3D zu sehen. Der Effekt ist faszinierend, erschütternd. Denn Farbe und Ton heben die historische Distanz auf. Die Gesichter beginnen zu leben, sie lachen, feixen – und sie ersterben, wenn die Toten des Krieges ins Bild rücken; zerschossen von Kugeln oder erstickt im Gas.
Unveröffentlichtes Material aus den Archiven der BBC und des Imperial War Museum
Jackson treibt das Entsetzen mit bislang unveröffentlichtem Material aus den Archiven der BBC und des Imperial War Museum beharrlich dem Höhepunkt entgegen, der zwanzigminütigen Sequenz eines Bajonettangriffs gegen kaiserliche Maschinengewehrstellungen. Ein Bild- und Tongewitter aus Film, Propagandaskizzen, Gewehrfeuer und den Schreien der Sterbenden. Mittendrin heißt es: „All meine romantischen Vorstellungen von Krieg waren verschwunden.“ Und dann ist alles vorbei. Jackson hat die vier Jahre des Grabenkrieges auf ein Gefecht komprimiert. Bei einer Spielzeit von etwas mehr als 90 Minuten ist das ein legitimer Schritt zur dramatischen Verkürzung. Dass sich solche Scharmützel beinah täglich über mehr als drei Jahre abspielten, entzieht sich dem Fassungsvermögen. Am 11. November 1918 war Schluss. Alle hatten die Nase voll vom Krieg. Das Resümee ist einhellig: „Wir hätten nicht gegeneinander kämpfen sollen.“
Der Film „They Shall Not Grow Old“ ist nur in ausgewählten Kinos zu sehen
Kein Film für jeden Tag: Trotz außerordentlichen Aufwands in Sachen Technik und Fleiß (etwa 600 Stunden Material wurden gesichtet) unterliegt der Film einer Veröffentlichungsstrategie, die eher auf Ereignischarakter setzt.
Ab 27.6. ist er nur in ausgesuchten Kinos zu sehen. Spätere Einsätze etwa in Schülervorstellungen des Films (übersetzt etwa: „Sie werden nicht alt werden“) sind jedoch möglich.