Essen. Schriftstellerin Elke Heinemann ist jüngste Preisträgerin des Literaturpreises Ruhr. Jetzt stellt sie sich mit einer Lesereise dem Revier vor.
In Elke Heinemanns jüngstem Roman „Fehlversuche“ ist das Ruhrgebiet ein metaphorischer Ort. Dem realen Revier stellt die Preisträgerin des Literaturpreises Ruhr ihr Buch in der kommenden Woche an vier Abenden in vier Städten vor. Mit Britta Heidemann sprach die 58-Jährige über Bergschäden, Kinderrechte und Erweckungsmomente.
Frau Heinemann, Sie sind in Essen aufgewachsen – warum haben Sie das Ruhrgebiet damals verlassen?
Ich bin in Steele aufgewachsen, aber nach dem Abitur wollte ich zunächst da sein, wo das Ruhrgebiet mir in dieser Zeit authentisch vorkam und bin in den Essener Norden gezogen. Von meinem Arbeitszimmer aus konnte ich den Förderturm von Zollverein sehen. Während meines Studiums bin ich nach Großbritannien und Frankreich gegangen und hatte danach den Eindruck, dass Essen nicht mehr der richtige Ort für mich war. Ich bin Mitte der 80er Jahre nach Berlin gezogen. Mein Standort ist irgendwann aus verschiedenen zufälligen Gründen Prenzlauer Berg geworden, zu einer Zeit, als dieser Teil Berlins noch ein großer Abenteuerspielplatz war.
Die meisten Schriftsteller aus dem Ruhrgebiet zieht es früher oder später nach Berlin…
Ich habe mir damals verschiedene Städte angeschaut. Ich würde sagen, es war ein biografischer Zufall.
Im jüngsten Roman aber sind Sie ins Ruhrgebiet der 60er Jahre zurückgekehrt.
Das Ruhrgebiet ist ein metaphorischer Schauplatz, ein Ort der Brüchigkeit. In der Zeit, in der ich dort gelebt habe, gab es immer wieder einen Bergrutsch. Dieses Gebiet war so erschütterbar wie die Kindheit, die ich beschreibe, in diesem Fall ist der Ort nicht austauschbar. Als ich im Essener Norden wohnte, gab es dort Häuser mit bis zu 20 Zentimeter Gefälle. Es wurden Stempel daruntergesetzt, trotzdem sackten die Häuser immer wieder ab.
Ihr Roman handelt von einer traumatischen Kindheit: Warum musste die Geschichte erzählt werden?
Ich bin der Ansicht, dass Kinder nach wie vor keine starke Lobby haben. Während ich an dem Buch gearbeitet habe, bekam ich mehrere Stipendien, eines von einer Stiftung für Menschenrechte und Literatur. Das muss man sich mal vorstellen: Erst in den 50er Jahren wurden die Menschenrechte um die Rechte des Kindes erweitert! Und was ist heute mit den geflüchteten Kindern, welche Rechte haben sie bei uns? Sie sind elternlos in einer fremden Umgebung, in einer fremden Kultur.
Im Ruhrgebiet leben viele Kinder von Hartz IV.
Eine meiner Cousinen ist Sozialpädagogin in einem Problemstandort im Essener Norden. Von ihr weiß ich, wie schwierig die Situation ist.
Wie gut kennen Sie das heutige Ruhrgebiet?
Ich habe Zollverein noch gekannt, als gefördert wurde – das war ein Ort harter Arbeit, die Arbeiter bekamen schwere Krankheiten, wurden verletzt. Und jetzt ist dies ein Ort der Kultur. Das Ruhrgebiet, das ich kenne, das ist museal.
Wäre das heutige Ruhrgebiet noch literarisch interessant für Sie?
Die Voraussetzung wäre, mich dort eine Zeitlang aufzuhalten. Als Kind hatte ich einen Erweckungsmoment im Folkwang-Museum, wo ich zum ersten Mal kubistische Malerei sah – ein Moment, in dem ich spürte, das trifft mich, da fühle ich mich innerlich angesprochen. So etwas kann immer passieren – aber eben auch in Bremen, in München oder in Hannover.