Mülheim. Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin gastierte im Rahmen des Klavierfestivals Ruhr in der Mülheimer Stadthalle.
Zum 15. Mal war er jetzt zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr. Damit wird es Zeit, den kanadischen Pianisten Marc-André Hamelin endgültig vom Ruf des „Über-Virtuosen“ zu befreien und ihn als einen Musiker zu begreifen, dem es vergönnt ist, manuelle Perfektion, analytische Schärfe und emotionale Tiefe in seltener Perfektion vereinigen zu können. In der voll besetzten Mülheimer Stadthalle belegte er diese Qualitäten mit einem anspruchsvollen, auf jeden virtuosen Zierrat verzichtenden Programm. Los ging es mit Ferruccio Busonis kongenialer Klavier-Transkription der berühmten Chaconne aus Bachs 2. Violin-Partita. Ein Vulkan kreativer Fantasie Bachs, der in seiner Vielfalt und Originalität für ein ganzes Komponisten-Leben ausreichen könnte. Hamelin gelingt das Kunststück, die extremen Stimmungs- und Tempowechsel des Werks mit seiner schier grenzenlosen Anschlagskultur messerscharf ausformen zu können und dank seiner intellektuellen und pianistischen Überlegenheit dem ausgedehnten, auf den ersten Blick zersplitterten Variationsreigen strukturellen Halt zu geben.
Eine hochkonzentrierte, zugleich souveräne Präsentation
Das alles präsentiert Hamelin hochkonzentriert und zugleich so souverän, dass sich stellenweise ein Hauch intellektueller Kühle einstellt, der allerdings schnell verfliegt. Wie wenig Hamelin an der Zurschaustellung seiner manuellen Fähigkeiten gelegen ist, bewies er anschließend mit zwei Werken von Frédéric Chopin, die in einem intimen Salon besser aufgehoben wären als in einem Konzertsaal. Der Titel „Polonaise-Fantasie“ op. 46 erweist sich als „Mogelpackung“, handelt es sich doch um einen introvertierten Monolog, der allenfalls versteckte Spurenelemente einer brillanten Polonaise enthält. Der im wahrsten Sinne des Wortes „fantasierende“ Duktus des Werks verlangt dem Pianisten eine formale Übersicht ab, die der der Bach-Chaconne kaum nachsteht. Und mit Chopins Scherzo Nr. 4 op. 54 hat sich Hamelin eins der unscheinbarsten Werke des Zyklus’ ausgesucht, das nach einem lyrischen Erzähler mit großem Gespür für die diffizilen Verästelungen der verkappten Ballade verlangt.
Höhepunkt mit Franz Schuberts letzter Klaviersonate in B-Dur D 960
Seinen Höhepunkt fand der Abend erwartungsgemäß in Franz Schuberts letzter Klaviersonate in B-Dur D 960, die Hamelin vor vier Jahren bereits an gleicher Stelle präsentierte. Wenn die Erinnerung nicht trügt, schlug er diesmal noch ruhigere Tempi an, mit denen er vor allem die gewaltigen ersten beiden Sätze in einen zarten Trauerflor hüllte. Wobei der natürliche Fluss der melodischen Offenbarungen jedoch niemals in Gefahr geriet. Wenn Schubert die melodischen Linien ins Stocken geraten oder gar abreißen lässt, wenn er die Zeit anzuhalten scheint, spielt Hamelin die Brüche deutlich aus, ohne den formalen Zusammenhalt der riesigen Sätze zu vernachlässigen. Immer wieder überrascht er mit feinen Anschlagsnuancen und entlockt dem Flügel faszinierend fahle oder silbrig leuchtende Farben. Das alles verbunden mit einem differenzierten, aber niemals exaltierten Gespür für dynamische Kontraste und Entwicklungen. Eine Schubert-Interpretation, die den enormen gestalterischen Problemen des Sonaten-Wunders auch diesmal in jeder Fassette gerecht wird.
Begeisterter Beifall für einen nicht alltäglichen Schubert-Abend, dem drei Zugaben folgten, darunter zwei Bearbeitungen alter französischer Lieder, in denen Hamelin ausnahmsweise seiner virtuosen „Pranke“ freien Lauf ließ.