Mülheim. . Der Dramatiker-Wettbewerb „Stücke“ auf der Zielgeraden. „Die Abweichungen“ wurden vom Publikum begeistert gefeiert.
Eben noch sorgte sie für Ordnung in der guten Stube, jetzt hängt sie tot in der Besenkammer: Der Selbstmord einer Putzfrau wirbelt das Leben einer Reihe wohlsituierter Großstädter durcheinander. Mit seiner quirligen Groteske „Die Abweichungen“ gelingt dem österreichischen Autor Clemens J. Setz bei den Mülheimer Theatertagen eine feine Tragikomödie mit genauer Menschenbeobachtung – vom gehobenen Boulevardhandwerk der Yasmina Reza nicht weit entfernt.
Setz wurde bekannt durch seine Romane „Frequenzen“ und „Indigo“. Fürs Theater schrieb der 36-jährige Grazer bislang eher selten. „Die Abweichungen“ basiert auf einer zunächst reichlich schräg wirkenden Idee, die aber dennoch zündet: Vor ihrem Suizid hat die treue Reinigungskraft Frau Jessem ihre freie Zeit damit verbracht, die Wohnung ihrer Klienten in kleinen Pappschachteln detailgetreu nachzubilden. Doch diese Miniaturen, so stellen die darin wohnenden Familien bei genauer Betrachtung verwundert fest, stimmen nicht ganz: In jeder Puppenstube finden sich winzige Abweichungen zum Leben. Mal liegt ein zweites Kind im Bett, mal steht der Schrank falsch.
In „Die Abweichnungen“ lauern Macken im geordneten Leben der Großstadt
Allmählich lernt man auch die Bewohner und ihre Macken kennen. Das wäre das schwule Ehepaar, das sich unablässig in Eifersucht und Neid verrennt, oder der zornige Geschichtslehrer, der nicht merkt, wie einsam seine Frau in Wahrheit ist. Ganz berührend gelingt Setz das Porträt einer älteren Dame, der die Demenz-Erkrankung ihres Mannes zunehmend über den Kopf wächst. Und eine junge Galeristin wittert in den Boxen einen handfesten Coup: „Das ist Outsider-Art!“, schwärmt sie und plant mit den Kunstwerken der Selbstmörderin eine Ausstellung.
Der ehemalige Bochumer Intendant Elmar Goerden macht aus der Uraufführung fürs Schauspiel Stuttgart ein hübsch anzuschauendes Kammerspiel. Die vielen kleinen Szenen lässt er mit betont leichter Hand ineinander fließen, wobei die Grenze zwischen Komik und Tragik fließend ist. Dazu liefern seine langjährigen Bühnenbildner Silvia Merlo und Ulf Stengel einen weiße, blitzblanke Wohnstube – fast wie von Frau Jessem selbst entworfen.
Bei Mülheims „Stücken“ feiert das Publikum „Die Abweicheungen“, auch wenn der Schwung ausgeht
Die Pointe mit den Abweichungen erschöpft sich relativ schnell. Nach einer wunderbar schwungvollen ersten halben Stunde tritt das Spiel im weiteren Verlauf öfter auf der Stelle. Etwas bemüht wirken die vielen Verwicklungen, die Setz seinen Figuren andichtet, etwas offensichtlich sind seine Seitenhiebe auf den Kunstbetrieb. Dabei ist das Ensemble erstklassig: darunter Sven Prietz als grantiger Lehrer sowie Anke Schubert und Peter Rühring als rühriges Seniorenpaar.
Im begeisterten Schlussapplaus schwingt auch Dankbarkeit mit: Denn nach den viele verkopft wirkenden Stücken der Mülheimer Festivaltage serviert Setz seinen Zuschauern einfach eine schöne, griffige Geschichte. Wenig ist das nicht.
Weitere Info zum Stücke-Spielplan: www.stuecke.de