Essen. . 48 Autoren, 48 Zugriffsweisen: Das neue Buch „Zeit-Räume Ruhr“ zeigt auf fast 1000 Seiten Beispiele kritischer Erinnerungskultur in der Region.

Ein Ruhrgebiet ist aus den rheinisch-westfälischen Industriebezirken erst allmählich nach dem Ersten Weltkrieg zusammengewachsen. Und bis heute ist offen, ob es nach dem Niedergang von Kohle- und Stahlindustrie auf Dauer noch etwas geben wird, was die „53-Städte-Stadt“ (Jürgen Lodemann) zusammenhält. Der Regionalverband Ruhr (RVR) könnte es tun, wenn er mehr wäre als ein bürokratischer Zusammenschluss der Revierstädte, die ja zudem von drei Regierungsbezirken und zwei Landschaftsverbänden verwaltet werden. Wahrscheinlich hat die Verbandsversammlung des RVR deshalb kurz nach Ende der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 den Auftrag erteilt, Erinnerungsorte des Ruhrgebiets zusammenzutragen – in der Hoffnung auf eine identitätsstiftende Wirkung.

Die damit betrauten Historiker aber witterten Heimattümelei – und erweiterten den Auftrag zu einer kritischen Befragung der Ruhrgebietsgeschichte. Die zusätzliche Dimension kam zum Ausdruck in der Ausweitung der Erinnerungsorte auf „Zeit-Räume Ruhr“, wie nun auch der abschließende Band mit knapp unter 1000 Seiten Umfang betitelt ist. Hier solle „keine neue Meistererzählung des Ruhrgebiets“ präsentiert werden, heißt es in der Einleitung, und man ist sehr besorgt, nicht zu viel Identifikation anzubieten, zumal „sich Erinnerungsdiskurse oftmals durch einen Überschuss an moralischem Impetus“ auszeichneten.

Mehr als Zeche, Trinkhalle, Hochofen, Halde

Im folgenden werden 49 Erinnerungsorte in je einem Kapitel abgehandelt, wobei es eben nicht nur um konkrete Orte wie die Zeche, die Trinkhalle, die Ruhr-Hochschulen, den Hochofen, die Halde oder den Ruhrschnellweg geht, sondern auch um geschichtliche Kristallisationspunkte wie die Migration, den Kruppianer, den Strukturwandel, Wiederaufbau, Streik und Zwangsarbeit.

48 Autorinnen und Autoren pflegen dabei 48 Zugriffsweisen mit deutlichen Unterschieden in Niveau und Reflexionstiefe. So geht dem sehr deskriptiven Aufsatz über die Ruhrbarone fast jegliche kritische Perspektive ab (sie behielten, Arm in Arm mit der Obrigkeit, im beinhart und mit missionarischem Selbstverständnis geführten Kampf gegen die Arbeiterbewegung stets die Oberhand, bis zur Sozialpartnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg) j, so fehlt im Kapitel über den Hochofen sein Nachleben als, ja doch, identitätsstiftendes Freizeitziel. Warum der Ruhri ein eigenes Kapitel neben dem Kumpel bekam, erschließt sich nicht unbedingt, während es über „Fußball“, „Trinkhalle“ oder „Wiederaufbau“ keine Diskussionen geben dürfte.

Erhellendes Kapitel über die Industriekultur

Ein ungewöhnlich erhellendes Kapitel über die Industriekultur hat der Sozialhistoriker Stefan Berger beigesteuert, Chef des Instituts für soziale Bewegungen an der Ruhruniversität Bochum. Er arbeitet heraus, dass nirgends auf der Welt die Industriekultur einen derart hohen, auch von offizieller Seite stark geförderten Rang besitzt. Im spanischen Kohle- und Stahlrevier Asturien ist man eher stolz auf die mittelalterliche Geschichte, in Großbritannien wurde sie ausradiert, um auch die von Margret Thatcher brutal durchgesetzte De-Industrialisierung vergessen zu machen, in den USA ist sie fast das Alleineigentum von linken Graswurzel-Bewegungen. Nur im Ruhrgebiet herrsche eine nahezu gespenstische Einmütigkeit, wenn es um Industriekultur geht.

Berger sieht darin das Zelebrieren der Erinnerung an einstige Größe und Stärke, bei der etwa die gleichzeitige Umweltzerstörung ebenso ausgeblendet werde wie die Unterdrückung der Frau, die Ausbeutung, die eben doch nicht immer gelungene Integration von Migranten. Die Industriekultur sei ein Generationenprojekt der 80er- und 90er-Jahre, das viel mehr Perspektiven als heute brauche: „Die Industriekultur und ihre Erinnerungen gehören in den Mittelpunkt des politischen Streits um die Zukunft des Ruhrgebiets. Die Homogenität des Erinnerungsraums Industriekultur entzieht ihm die Luft zum Atmen, die Industriekultur droht daran zu ersticken.“

266 Erinnerungsorte für das Ruhrgebiet im Netz

Auf der Internetseite www.zeit-raeume.ruhr, die diesem Band zugrundeliegt, gibt es mittlerweile 266 Erinnerungsorte für das Ruhrgebiet. Hier wie auch im Buch fehlt ein im Ruhrgebiet bis heute maßstabsetzender Erinnerungsort: der Gigant. Alles, was kleiner ist, hat es im Ruhrgebiet schwer, ernst und wahrgenommen zu werden. Deshalb wohl musste auch dieser Band so dick werden.

Zeit-Räume Ruhr. Erinnerungsorte des Ruhrgebiets. Hg. von Stefan Berger, Ulrich Borsdorf, Ludger Claßen, Heinrich Theodor Grütter, Dieter Nellen. Klartext Verlag, 942 S., 39,95 Euro.