Mülheim. . Elfriede Jelineks Textgebirge „Schnee weiss“ war bei den Mülheimer Theatertagen in einer Inszenierung des Schauspiels Köln zu sehen.
Texte von Elfriede Jelinek zu lesen, ist keine reine Freude. In schier endlosen Gedankenströmen setzen sich die gefürchteten Assoziationsketten in Gang. Da springt sie wie entfesselt von einem Thema zu nächsten, klagt an, regt sich auf, zeigt Haltung, Witz und bohrt tief im menschlichen Elend, wunderbar formuliert, knallhart in der Sache.
Ihren jüngsten Theatertext „Schnee weiss (Die Erfindung der alten Leier)“ nutzt die Literaturnobelpreisträgerin für eine böse Abrechnung mit dem Skisport, der in ihrer österreichischen Heimat zur Identität des ganzen Landes gehört – wie Mozart und die Lipizzaner.
Kölns Schauspiel-Chef Stefan Bachmann inszeniert
Doch seit 2017 eine Reihe sexueller Übergriffen während der 70er und 80er Jahre in Trainingslagern und bei Wettkämpfen öffentlich wurden, hat das nationale Selbstbewusstsein Risse bekommen. Daraus entwickelt die Autorin eine 90-seitige Anklage über Moral, Gewalt und Machtmissbrauch im christlichen Abendland. Hut ab vor denen, die mutig genug sind, solche Textgebirge auf die Bühne zu bringen.
Einer von ihnen ist Kölns Schauspiel-Chef Stefan Bachmann, dessen Uraufführung von „Schnee weiss“ bei den Mülheimer Theatertagen auf großes Interesse stößt.
Der Regisseur knüpft dabei an seine gefeierte Wiener Inszenierung von Jelineks „Winterreise“ an, die ebenfalls auf einer großen Schräge spielte und die Theatergänger zu schlimmsten Après-Ski-Klängen von DJ Ötzi heimwärts schickte. Auch diesmal stürzen sich die Schauspielern auf Skiern einen Steilhang hinunter, wozu Mallorca-Sänger Peter Wackel nachgerade beängstigende Prosa beisteuert: „Ich verkaufe meinen Körper“, dröhnt es aus den Boxen, „ganz ganz billig.“
Formidables Spiel von Peter Knaack und Simon Kirsch
Der Zuschauer muss sich während des rund zweistündigen Spiels schnell mit dem Gedanken anfreunden, kaum alle Facetten dieses Textes, den er hier um die Ohren gehauen bekommt, begreifen zu können, zumal die Autorin ihre Gedankenwelten immer weiter ausbaut: etwa mit dem Satiredrama „Das Liebeskonzil“ von Oskar Panizza und mit Nietzsches Überlegungen zur Moralphilosophie. Auf einer phantasievoll gestalteten Bühne von Jana Findeklee und Joki Tewes, die mal ein Skigebiet, mal eine Art Krippe zeigt, findet Bachmann indes einen guten Zugang, den ganzen komplizierten Irrsinn fürs Theater zu öffnen.
Dabei kann er sich auf ein formidables Ensemble verlassen, das den Jelinekschen Stier bei den Hörnern packt: darunter Peter Knaack, dem als Jesus am Skikreuz mit Perücke und Zottelbart ein pointierter Auftritt gelingt. Die 80-jährige Margot Gödrös gibt im Rollstuhl sitzend den Gottvater mit schneidendem Zynismus und großer Stimme.
Und wann hat man jemals einen solch berührenden Monolog eines abgeschlagenen Schädels gehört? In einem 20-minütigen Selbstgespräch, in dem er schimpft und wütet, zeigt der nur mit dem völlig beschmierten Kopf zu sehende Simon Kirsch eine ganz starke Leistung.