Recklinghausen. . Ruhrfestspiele in Recklinghausen: Vier Stunden inszeniert Ivo van Hove den Riesenroman „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara.

Wo der Absturz ins Grauenhafte so tief reicht, braucht es Fallhöhe. Also Leichtigkeit, Lebenslust, Glück. Im großen Haus der Ruhrfestspiele chillen vier fröhliche junge Amerikaner in ihrer Gemeinschaftsküche, vom Herd duftet es herrlich. Die 40 Zuschauer, die einen Platz auf der Bühne bekommen haben, werden später kosten dürfen – und damit schmecken sie auch „Ein wenig Leben“.

Die Männer sind Willem und Malcolm, „JB“ und Jude. Jude wird zum Zentrum, dieser schöne Mann, Liebling aller, später - wir begleiten die Freunde drei Jahrzehnte - Erfolgsjurist und zugleich ein Verzweifelter, dem nichts und niemand hilft. Denn Jude, ein Findelkind, hat Jahre sexuellen Missbrauchs erlitten. Als Bube war er Opfer der frommen Brüder im Waisenhaus; die Sehnsucht nach Zuwendung nutzt ein Verbrecher, Jude zum Kinderprostituierten zu machen.

Vier Stunden erzählt Ivo van Hoves „Internationaal Theater Amsterdam“ ein Martyrium

Das gebrochene Wesen hat sich als erwachsener Staranwalt im Griff, aber die Hyänen der Erinnerung heulen im Innern: in den Stimmen von Bruder Luke, von ekelhaften „Kunden“ und dem sadistische Folterer, dem Luke seine zerstörten Beine verdankt. Jude, dem Schmerz Erleichterung schenkt, ritzt sich bis zur Lebensgefahr, seine schicke Loft hält ein verstecktes Päckchen Rasierklingen im Designer-Bad bereit.

Vier Stunden erzählt Ivo van Hoves „Internationaal Theater Amsterdam“ ein Martyrium, in dem - wie in den fast 1000 Seiten des Romanvorbildes von Hanya Yanagihara – auf wundersame Weise bei allem Grauen die Menschlichkeit berührend allgegenwärtig ist. Und während auf Seitenleinwänden eine nicht enden wollende Kamerafahrt durch das erwachende New York auf seine Weise den tragischen Aspekt der Fassade visualisiert, bildet Jan Versweyvelds Bühne einen offenen Raum für einen Kreuzweg, auf dessen bittersten Strecken die Freundschaft nie fliehen wird.

Jubel der Dankbarkeit und Wertschätzung für traurigschönes Theaterglück

Was wir an diesem Abend sehen, hören, fühlen, ist schwer auszuhalten. Doch wie van Hove tabulos sexuelle Gewalt und Niedertracht bebildert und zugleich seine exzellent natürlichen Schauspieler eine Hymne auf das Leben verkörpern, das ist traurigschönes Theaterglück. Wann hat man das Publikum im Festspielhaus derart lang in so gebannter Stille erleben dürfen? Um dann in den langen Jubel der Dankbarkeit und Wertschätzung auszubrechen.