Essen. . Ein Kirschgarten ganz baumlos. In Essen ist eine Neuinszenierung des Tschechow-Klassikers zu sehen. Es gab viel Premierenbeifall.
Die Geschichte ist eigentlich zu Ende, bevor sie beginnt. Der letzte Satz des alten Diener Firs (jung besetzt mit Sabine Osthoff) ist diesmal der erste. Aus dem guten Geist des Hauses wird ein grauer Geist der Vergangenheit, der die gänzlich baumfreie „Kirschgarten-Inszenierung von Alice Buddeberg im Essener Schauspiel wie im Rückwärtsgang begleitet.
Statt eines feudalen Anwesens hat die Regisseurin ein historisches Bild des Grillo-Theaters aus der Entstehungszeit des Tschechow-Stückes als Kulisse herbeizitiert (Bühne: Sandra Rosenstiel). Ohnehin spielen hier ja alle etwas vor. Affektierte Liebesschwüre, theatralische Kindheitsbeschwörungen und ein Früher-war-alles-besser-Ideal werden zum Antrieb eines Illusionsapparates, dem allmählich der Treibstoff ausgeht.
Da wundert es nicht, dass die bankrotte Gutsbesitzerin Ranjewskaja (bei Silvia Weiskopf ein flackerndes Nervenbündel) ihr altes Zuhause übermütig begrüßt wie ein Sterntaler-Kind, das immer noch auf den großen Geldregen hofft. Doch das Gut ist verschuldet und die löchrigen Socken des Kontoristen Jepichodow (Jens Winterstein) sind nicht der einzige Hinweis darauf, dass eine Gesellschaft längst Maß und Mittel verloren hat.
„Der Kirschgarten“ am Essener Grillo-Theater ist eine Utopie von Anfang an
So ist der Kirschgarten von Anfang eine Utopie. Innen- und Außenräume werden im Bühnenbild nicht unterschieden. Dieser verlorene Ort gleicht eher einem Wartesaal zum großen Glück, wo die etwas wohlstandsverwahrloste Kirschgarten-Truppe in ihrer mit Kunstpelz und Cowboystiefeln aufgemotzten Adidas-Volksbühnen-Montur (Kostüme: Martina Küster) den Anschluss längst verpasst hat. Henriette Hölzels Pflegetochter Warja umweht die Hoffnungslosigkeit wie ein schwerer Duft, während Dienstmädchen Dunjascha (Stephanie Schönfeld) und Ranjewskajas Bruder Gajew (Thomas Büchel), die Lethargie aufgekratzt mit Synthie-Pop und infantilen Handpuppen überspielen.
Weil Buddeberg das Stück nicht nah heranziehen will an eine Gegenwart, in der die Wette auf die Zukunft mit alten Idealen und mit nostalgischen Gefühlen schon gar nicht mehr vereinbar ist, bleiben die Figuren fern. Auch wenn Alexey Ekimovs Bummelstudent Trofimow mit seinen „Wo bleibt die soziale Gerechtigkeit“-Reden wie ein Kevin Kühnert Russlands klingt und Philipp Noacks Sozialaufsteiger Lopachin trotz Rasputin-Bart längst den Ton des weitsichtigen Unternehmers trifft, haben diese Träumer doch immer einen Sicherheitsabstand zur Realität.
Zudem hat Buddeberg ihren sacht gestrafften und sprachlich etwas auf Zeitgeist gebrachten Abend in zwei pausenlosen Stunden von Anfang an so auf Moll getrimmt, dass vom Kirschgarten so wenig zu erkennen ist wie von Tschechows Komödien-Bezeichnung. Am Ende fallen nicht mehr Bäume, sondern Kulissenteile. Auch wir bleiben tatenlose Beobachter einer neuen Zeit. Viel Applaus.
Termine: 11.,12. 22. Mai, Karten: 0201-8122-200.