Recklinghausen. Milllionen aus der „dritten Welt“ vor der Küste Frankreichs: Eine Vision von 1973 beschert den Ruhrfestspielen „Das Heerlager der Heiligen“
Falls es als Alleinstellungsmerkmal gedacht war: Punktlandung! Selbst Ältere können sich nicht erinnern, dass die Ruhrfestspiele mit einem Kult-Roman der Neuen Rechten an den Start gegangen sind. Samstag wurde in einer Uraufführung Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ zum Drama.
Trumps zeitweise rechteste Hand Steve Bannon war hingerissen, Marine Le Pen zitiert ganze Passagen frei von der Hetzleber weg: Prophetie und plumper abendländischer Hochmut haben dem Machwerk des nunmehr 93-Jährigen Autors einen zweiten Frühling beschert. Raspail, für dessen Helden Nächstenliebe in die Kategorie „humanitärer Schwachsinn“ gehört, entwarf für die frühen 1970er das Szenario eines letzten Gefechts. Quasi über Nacht findet sich eine knappe Million Menschen aus Indien vor Frankreichs Mittelmeerküste ein. Diese Boote sind wirklich voll. Und Europa hat, so dürfen wir den Text verstehen, jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: teilen oder schießen.
Natürlich wollen die Ruhrfestspiele sich mit diesem Schund nicht gemein machen. „Wir müssen die Schriften dieser Ideologie kennen“, hatte Intendant Olaf Kröck vor der Premiere gegenüber unserer Zeitung sein Projekt verteidigt. Der dafür angeheuerte Hermann Schmidt-Rahmer scheitert freilich weitgehend an einer Durchleuchtung der monströsen Figuren und ihrer Weltsicht (das Leben, das sie lieben, geschieht „nach westlicher Art unter gleicher Rasse“).
Die Ruhrfestspiele dramatisieren einen Roman der Rechten. Die Bühne zeigt ein Bankett des Untergangs
Schmidt-Rahmer versprach den Text „auf die Couch“ zu legen. In Thilo Reuters Bühne ist es ein Bankett am Rand des Untergangs geworden: Gotische Pforten und ein Kamin aus den großen Zeiten des Lilienthrons umgeben die im Gothic-Stil geschminkten Figuren. Durchs Parkett des Kleinen Theaters weht der Duft von Brathuhn und fetter Zigarre, während die Texte kaltschnäuzig vom Gestank jener Toten erzählen, die die Reise an die Gestade des Wohlstands nicht überlebt haben.
Das Verhöhnen von Mitleid, das Absauen der Medien, die Stilisierung der Rechten („eine tanzende Flamme“): Solche Textfetzen – mehr kann es bei 110 Minuten und einer Vorlage von 420 Seiten nicht sein – irrlichtern assoziativ durch das Sextett der soliden Schauspieler, deren Abendanzüge eine Welt von Strindberg oder Ibsen evozieren. Ihr Credo hören wir weder wütend noch erschüttert, sondern bloß: rat- und teilnahmslos.
Sattsam bekannte Regie-Mittel führen „Das Heerlager der Heiligen“ zu keiner tieferen Erkenntnis
Schmidt-Rahmer lädt den Abend mit sattsam bekannten Mittelchen auf: Es filmt sich das Personal mit Smartphones, das Publikum sieht sich beim Einlass als Großprojektion auf der Leinwand. Es gibt, erwartbar, Kot und Blut und irgendwann überschwemmt eine Urangst des Westens in einer schmerzensreichen Geburt zwischen Bordeaux und Migranten-Küchenhilfen die Bühne mit hunderten kleiner Plastikbabies.
Wen dieser Abend – musikparfümiert mit Georges Bizet und Edith Piaf, optisch fehlbeladen mit dem Brand Notre Dames – erreichen soll, das wird man fragen dürfen. Drei Abende läuft er, zuletzt am morgigen Montag, 20h, in Recklinghausen. Dann zieht das Heer zum Koproduktionsort Frankfurt, dessen Schauspielchef Anselm Weber ist, Olaf Kröcks langjähriger Vorgesetzter.
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Der Romantitel stammt aus der Offenbarung des Johannes, in der Satan „das Lager der Heiligen und Gottes geliebte Stadt“ umzingelt.
Auch die nächsten großen Ruhrfestspiel-Premieren fußen nicht auf Dramen: Sie widmen sich „Max und Moritz“ (in einer Version für Erwachsene) und dem US-Roman „Ein wenig Leben“.