Essen. . Die Ruhrfestspiele bringen Herta Müller, Louis Begley, Georg Stefan Troller auf die Bühne: Kritiker Denis Scheck über Literatur, die heilt.

Beredte Jahrhundertzeugen sind sie, haben für die Erfahrungen von totalitärem Schrecken auf je eigene Weise eine Sprache gefunden: Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, Schriftsteller Louis Begley und Film-Porträtist Georg Stefan Troller werden bei den Ruhrfestspielen zu Gast sein. Alle drei Abende moderiert Literaturkritiker Denis Scheck (54). Über die heilende Macht der Literatur sprach er mit Britta Heidemann.

Herr Scheck, Sie sprechen mit drei Menschen, deren Werke von den Abgründen des Jahrhunderts erzählen. Warum ist es Ihnen wichtig, diesen Stimmen Gehör zu verschaffen?

Diese drei Menschen haben mich mit ihrem einzigartigen Zugang zur Welt, ihrer literarischen Sicht auf unsere Zeit und unsere Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt und begleitet. Diesen für mich wichtigten Stimmen möchte ich lauschen und Ihnen einige Fragen stellen, die mich zur Zeit umtreiben.

Georg Stefan Troller.
Georg Stefan Troller. © dpa

Gibt es den einen roten Faden, die eine Frage, der Sie beschäftigen wird?

Diese drei Schriftsteller haben sehr verschiedene Lebenswege beschritten. Herta Müller ist Dichterin geworden, Louis Begley war ein sehr mächtigter amerikanischer Wirtschaftsanwalt, ehe er auf die Literatur setzte, Georg Stefan Troller hat als Dokumentarfilmer und eigenwilliger Porträtist Generationen deutscher Filmemacher geprägt. Allen drei gemein ist aber die Erfahrung von Repression und absoluter Ohnmacht in einer totalitären Diktatur – im Fall von Troller als österreichischer Jude während der Nazizeit, im Fall Begleys als polnischer jüdischer Junge, der den Holocaust getarnt als Katholik überlebte, und im Fall Herta Müllers in der Ceaucescu-Diktatur in Rumänien. Wie übersteht man so etwas? Welche Spuren hinterläßt es in einem? Welche Auswirkungen haben solche Lebenserfahrungen für die Kunst, die man schafft?

Die Termine

Die Literatur-Reihe beginnt am 6. Mai mit Herta Müller; am 14. Mai ist Georg Stefan Troller zu Gast und am 25. Mai Louis Begley. Alle drei Abende starten um 20 Uhr im Großen Haus.

Zum Literaturprogramm gehören zudem Lesungen mit prominenten Schauspielern wie Caroline Peters, Charly Hübner, Dietmar Bär und anderen. Karten: www.ruhrfestspiele.de.

Nobelpreisträgerin Herta Müller begegnete den Zumutungen des Lebens sprachgewaltig – so sprachgewaltig, dass man ihr vorwarf, sie poetisiere das Grauen. Mit wie viel Schönheit darf man vom Schrecken erzählen?

Auf diese Frage wird jeder Schriftsteller eine eigene Antwort geben. Mich hat die Antwort, die Herta Müller in ihrem Werk gibt, restlos überzeugt. Gerade seine betörende sprachliche Schönheit macht den Roman „Atemschaukel“ in meinen Augen so grandios, gerade durch sie teilt sich besonders intensiv eine historische Erfahrung mit, die Anfang des 21. Jahrhunderts zu wenige Deutsche kennen: die Erfahrung des Lagers.

Louis Begley erlebte als Kind den Holocaust, kam 1947 in die USA – und lebte ein langes Leben als Anwalt, bevor er über seine Traumata schrieb. Was lernen wir von ihm über die Fähigkeit, ein Leben neu zu erfinden, dem Schicksal eine weitere Wendung abzutrotzen?

Ich persönlich bin offen gestanden am meisten von Louis Begleys Fähigkeit fasziniert, sich von seiner historischen Erfahrung nicht den Stoff seiner künstlerischen Arbeit diktieren zu lassen. Deshalb faszinieren mich gerade Begleys geschliffene amerikanischen Gesellschaftsromane wie „Schmidt“. Und über diese Münchhausen-Fähigkeit, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der biographischen Erfahrung zu ziehen, möchte ich mit ihm sprechen.

Die Kunst des direkten Fragens ist bei Georg Stefan Troller herausragendes Stilmittel, war er auch Ihnen ein Vorbild?

Unbedingt. Ich habe von Trollers intelligenten und überraschenden Fragen, seinem psyschologischen Röntgenblick den höchsten Respekt. Gleichzeitig weiß niemand besser als er, daß wir alle Dr. Frankensteins sind und aus totem Material – das, was wir drehen, notieren, auf Band aufzeichnen – einen künstlichen Homonculus erschaffen, den wir dann für den echten Menschen ausgeben. Wie und warum das funkioniert – darüber wird zu reden sein.

Louis Begley.
Louis Begley. © Sonia Moskowitz

Europa bröckelt und verteidigt doch energisch seine Außengrenzen, die US-Politik liefert tägliche Schlagzeilen, die Welt scheint zunehmend aus den Fugen. Kann der Blick auf die Historie, die literarische Verarbeitung von Geschichte uns helfen?

Natürlich hilft historisches Wissen, um sich vor den Aufgeregtheiten der Gegenwart zu schützen. Im Vergleich zu Deutschland im Jahr 1918, 1933 und 1945 finde ich es im Moment hier in diesem Land ausgesprochen lauschig und angenehm und kann definitiv nicht bestätigen, daß die Welt aus den Fugen geht. Auch wenn wir den historischen Zoom etwas größer stellen und an den Schwarzen Tod oder den 30jährigen Krieg denken, gerät manches in die richtige Perspektive. Zumindest regt man sich dann bei Fragen über Dosenpfand, Mehrwertsteuer und Elektrorollern auf Gehwegen etwas weniger auf.

Denis Scheck.
Denis Scheck. © imago stock

Sie haben sich früh der Literatur zugewandt. Was kann sie, was andere Künste so nicht können?

Romane sind die einzigen funktionierenden Zeitmaschinen, die ich kenne. Sie reißen uns Leser aus dem Hier und Jetzt der Gegenwart und transportieren uns im Handumdrehen in die fernste Vergangenheit oder in die weiteste Zukunft, ja sogar in Parallelwelten. Literatur ermöglicht es uns, unser Geschlecht, unsere Hautfarbe, unsere Nationalität und unsere Religion zu wechseln. Diese Freiheit schätze ich sehr. Ich lese nicht zuletzt deshalb, weil ich wissen möchte, was in jenen rund 110 Milliarden Menschen vorgegangen ist, die seit Entstehung unserer Spezies auf diesem Planeten gelebt haben und von denen gerade einmal 7 Milliarden heute unsere Zeitgenossen sind.