Essen. . Zur Premiere seiner Oper „Medea“ im Essener Aalto-Theater ist der große Komponist Aribert Reimann (83) ins Ruhrgebiet gekommen. Ein Gespräch.

Zur Premiere seiner Medea aus Berlin nach Essen?! „Das ist doch selbstverständlich“, sagt Aribert Reimann (83) und blickt aufs sonnenbeschienene Aalto-Theater. Lars von der Gönna traf den bedeutenden Gegenwartskomponisten – zum Gespräch über Hörgewohnheiten, Effekthascher und das Prägende des Krieges.

Sie komponieren seit mehr als 70 Jahren. Kennen Sie noch Aufregung vor der Premiere? Sie waren im Aalto ja schon auf der Probe.

Aribert Reimann: Erst einmal: Robert Jindra macht das in Essen als Dirigent fantastisch. Ich bin ganz begeistert von ihm, und die Philharmoniker sind ganz toll – sie spielen mit einer unglaublichen Präzision. Aufgeregt bin ich erst in der Aufführung – bei der Premiere zittert man natürlich. Man weiß nie, wie das Publikum reagiert.

Sie können immer noch staunen über großen Applaus für Komponisten Neuer Musik, dabei sind Sie einer der größten.

Wissen Sie, ich für mich selbst erwarte immer das Schlimmste (lacht). Ich gehe nie davon aus, dass etwas ein großer Erfolg wird. Wie soll man das wissen? Man schreibt ein Stück, man war beim Komponieren so lange Zeit mit sich allein am Schreibtisch. Aber wie das Publikum reagiert, ist absolut unberechenbar. Es ist immer gut, wenn man mit nichts rechnet. Es wäre ja furchtbar belastend, wenn man spekuliert oder kalkuliert, ob es nun ein Erfolg wird.

Bedeutet das auch, dass Ihnen alles Denken an Wirkung und Effekt unbedeutend ist?

Es gab und gibt Komponisten, die auf Wirkung zielen. Ich habe das nie verstanden, ich kann das gar nicht. Ist mir total fremd.

Wie sehen Sie die Situation Neuer Musik im 21. Jahrhundert?

Die Aufnahmefähigkeit für Neue Musik ist sehr viel offener geworden, viel mehr als vor 20 Jahren. Da hat sich viel getan. Menschen kommen zu Einführungsveranstaltungen, zu Diskussionen. Und ich erlebe Orchestermusiker, die sich ungeheuer kenntnisreich auf diese Musik einlassen. Also: Um die Zukunft sollten wir uns nicht sorgen.

Dennoch hat Neue Musik es nicht leicht. Wir haben in der deutschen Sprache das Wort „Hörgewohnheit“. Kann Neue Musik überhaupt Gewohnheit werden? Ist der Widerhaken nicht ihr Wesen?

Ein Stück ohne Widerhaken existiert eigentlich nicht. Das wäre ja oberflächlich, ohne Substanz, uninteressant. In einer Welt, in der alles so glatt, alles so auf Vermarktung aus ist, sind Widerhaken wichtiger denn je. Aber eigentlich waren sie immer da. Welche unglaublichen Schwierigkeiten hatte Beethoven in seiner Zeit! Und wer tief in Mozarts Musik hingeht, der findet Widerhaken auch dort. Und bei Schumann erst – genau das macht seine Musik so aufregend.

Ihr Werk kreist um die menschliche Stimme. Sie kamen aus einer Sängerfamilie, waren Jahrzehnte Liedbegleiter großer Sänger: Ist das der zentrale Grund?

Sicher, ich bin damit aufgewachsen, Singen war für mich eine Selbstverständlichkeit. Aber es ist nicht nur das. Es ist ja auch die Ur-Form der Musik, mit seiner Stimme Gefühle auszudrücken. Das Singen mit dem Atem ist ganz eng mit der menschlichen Seele verbunden. Solange der Mensch lebt, wird er singen. Deshalb habe ich auch Probleme, wenn Kompositionen das Singen systematisch zerstören, auf Geräusche reduzieren. Dann brauche ich keinen Sänger, das kann ein Schauspieler viel besser.

Ihr Credo: Eine Welt in Frieden darf von uns nicht als Utopie abgetan werden. Zugleich aber waltet in Ihren Opern große Düsternis. Wie geht das zusammen?

Es gehört ganz eng zusammen. Ohne die Hoffnung auf Licht kann man nicht leben. Ich habe als Kind in Berlin und Potsdam die komplette Zerstörung erlebt, der Keller war unser zweites Zuhause. Wenn man so aufwächst, entwickelt man eine Hoffnung, dass das aufhört. Und es hörte auf: 1945 war ich neun Jahre alt, aber mein Bruder ist durch Bomben umgekommen.

Eine heitere Frage zum Schluss. „Leider nicht von mir“ hat der große Brahms über Johann Strauß’ „schöne blaue Donau“ gesagt. Welches Stück der Musikgeschichte hätten Sie gern geschrieben?

Das wechselt. Aber der langsame Satz von Robert Schumanns zweiter Sinfonie gehört für mich zum Schönsten, was überhaupt geschrieben worden ist.