Duisburg. . Durchbruch der Moderne: Das Duisburger Lehmbruck-Museum zeigt rund 100 Skulpturen von elf Künstlerinnen und Künstlern. Eröffnung am Samstag.

Am Ende seines 38 Jahre kurzen Lebens sah es gar nicht so übel aus für Wilhelm Lehmbruck: Der Frieden nach dem mörderischen Ersten Weltkrieg währte fast ein halbes Jahr, und Lehmbruck war ein anerkannter, international bekannter Künstler, bestens vernetzt mit Kollegen und Ausstellungsmachern. Als einziger Deutscher hatte er etwa 1913 auf der Armory Show in New York zwei Skulpturen gezeigt, darunter seine „Kniende“, die für den Schriftsteller Theodor Däubler das „Vorwort zum Expressionismus in der Skulptur“ war. Und gerade hatte ihn die Preußische Akademie der Künste zu ihrem neuen Mitglied gewählt.

Und doch nahm sich Wilhelm Lehmbruck vor 100 Jahren, am 25. März 1919, in Berlin das Leben, und immer schwieriger ist auszumachen, was ihm mehr das Gemüt verdunkelte: Die Erschütterung durch den ersten Maschinenkrieg der Menschheit, dessen bestialisch zugerichtete Opfer Lehmbruck als Sanitäter in einem Berliner Lazarett zu Gesicht bekam – oder seine persönliche Misere aus Ehekrise, ausgelöst durch die Syphilis-Ansteckung bei einer Prostituierten, und unerfüllter Liebe zur jungen Theater-Göttin Elisabeth Bergner.

Einen „Unvollendeten“ aber mag man den 1881 in Duisburg-Meiderich geborenen Bildhauer trotzdem nicht nennen, dazu hat er einen viel zu tiefen Abdruck in der Kunst hinterlassen. Seine Skulpturen mit ihren gelängten Gliedmaßen und hoch aufragenden Köpfen haben den Begriff von Schönheit verändert – so zeigt es eine Ausstellung des Duisburger Lehmbruck-Museums, das die Skulpturen seines Hauspatrons denen von Rodin gegenüberstellt. Lehmbruck hat den über vier Jahrzehnte älteren Rodin, der sich als Erneuerer der Bildhauerei noch mühselig gegen den Akademismus durchsetzen musste, zutiefst verehrt; doch als er ihm 1910, bei seinem ersten Paris-Aufenthalt, war schon ein anderer, nämlich Aristide Maillol, sein Leitstern. Gleichwohl hatten sie alle einen neuen Begriff von Schönheit, der die Idealisierung der Wirklichkeit weit überstieg. Rodin schuf ja nicht nur emblematische Werke wie seinen „Denker“ (der in Duisburg als postumer Guss eines „mittleren Modells“ zu sehen ist), sondern auch „Die einst schöne Heimschmiedin“ (1880-83), gealtert und nackt in patiniertem Gips: „Was man allgemein als Hässlichkeit bezeichnet“, zitiert die Ausstellung Rodin, „kann in der Kunst zu großer Schönheit werden.“ Für ihn fußte Schönheit auf der Wahrheit, zu deren Reservoir die Kunst im 20. Jahrhundert immer mehr stilisiert werden sollte.

Der Torso als eigene Kunstform

Wie verschieden das Verständnis von Schönheit ausfallen kann, wird in Duisburg allerdings auch greifbar, an hundert Werken von elf Künstlerinnen und Künstlern, unter ihnen die mehr als hochbegabte Rodin-Schülerin Camille Claudel, deren „Walzer“ oder „Schwätzerinnen“ in Bronze allein den Besuch lohnen. Ihnen beigesellt sind konventionelle Bildhauer-Schönheiten wie eine „Schlafende“ von Max Klinger oder Alfred Bouchers „Badende“ – ein Motiv, das auch Lehmbruck noch eher in herkömmlicher Manier behandelte; die Bronze von 1902-05 ist denn auch eines der ältesten seiner Werke in dieser Schau. Es ist allerdings auch die erste Skulptur eines Studenten, die von der damals als konservativ verschrieenen Düsseldorfer Kunstakademie erworben wird.

Doch schon die „Stehende“, mit der Lehmbruck 1910 beim Pariser Herbstsalon Aufsehen erregt, hat erste Züge von Abstraktion, sucht den Typus statt des Individuellen.

Lehmbrucks bekannte Setzung „Alle Kunst ist Maß“, die auch auf dem Weg zum Museumseingang eingelassen ist, wird hier präzisiert mit dem Satz: „Das Detail ist das Maß für das Große.“ So trieb Lehmbruck die Entwicklung des Torsos, der durch Rodins Arbeiten von der antiken Zufallsüberlieferung mit abgeschlagenen Armen, Beinen oder Köpfen zu einem eigenen bildhauerischen Genre geworden war, weiter voran – und wurde selbst zum Antreiber für seine Freunde Brâncuși und Archipenko, ja für den Surrealisten Jean Arp.

Die klug inszenierten Skulpturen, bei denen höchstens Feinschmecker die relativ hohe Zahl von späten Güssen bemerken werden, sind ergänzt um eine Studio-Ausstellung mit Dokumenten und Fotos, die vor allem dem Frühwerk Wilhelm Lehmbrucks gewidmet sind.

Dass wahre Schönheit aber nicht ohne Emotion auskommt, macht eines der kleinsten Werke der Schau klar. Es ist ein Abguss der Hand des toten Rodin, die einen kleinen weiblichen Torso hält – Rodin hatte ihn noch zu Lebzeiten geschaffen, eigens für diesen Zweck.