Jan Bonnys Film „Wintermärchen“ ist inspiriert von den NSU-Morden – und erschütternd brutal.
Der Impuls, einfach wegzuschauen, ist geradezu übermächtig. Irgendwann sind die Exzesse, der kalte, mechanisch-brutale Sex, die ewigen Saufgelage und die gänzlich sinnlosen Morde an Deutschtürken, kaum mehr zu ertragen. Man will sich dem nicht weiter aussetzen. Doch Jan Bonny lässt einem keine Wahl, höchstens die, den Kinosaal einfach zu verlassen. Nur war diese Art der Verleugnung noch nie eine Lösung. Also bleibt nur eins, sich all den hysterischen und gewalttätigen Ausbrüchen auszusetzen und Bonny auf seinem Weg in die tiefste deutsche Dunkelheit zu folgen.
Rechtsextreme Terrorzelle in Kölner Wohnung
Das Vorbild für den Film gewordenen Albtraum „Wintermärchen“ scheint offensichtlich zu sein. Wie Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bilden Becky, Tommy und der später zu ihnen stoßende Maik eine rechtsextreme Terrorzelle. Sie leben gemeinsam in einer kleinen Kölner Wohnung und stilisieren ihre Situation so weit, dass sie behaupten können, im Untergrund zu sein. Das wirkt vor allem zu Beginn, als Becky und Tommi noch alleine sind, reichlich absurd. Schließlich passt sie regelmäßig auf die Kinder einer Nachbarin auf, und er stromert tagein, tagaus durch die Straßen und Parks in der Nähe der Wohnung. Einmal spricht er sogar einen Teenager an, der von anderen Jugendlichen drangsaliert wurde, und kauft ihm am nächsten Kiosk ein Bier. So verhält sich kaum jemand, der unsichtbar bleiben will.
Entsprechend höhnisch kommentiert der frühere Bundeswehrsoldat Maik den Lebensstil des in einer sadomasochistischen Hassliebe aneinandergeketteten Paares. Der von Jean-Luc Bubert gespielte bärtige Macho, der ständig seine Virilität unter Beweis stellen muss, ist es auch, der den Fantasien Taten folgen lässt. Er treibt die Eskalation voran, von der Becky und Tommi immer nur gesprochen haben.
Jan Bonny orientiert sich an Terrorakten der NSU
Zwar orientiert sich Jan Bonny in einigen Details tatsächlich an den Terrorakten des NSU. Aber trotzdem erzählt er keine Geschichte über Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Wie einst Rainer Werner Fassbinder und Christoph Schlingensief bedient sich auch Bonny realer Ereignisse, um sie so weit zu verfremden und vor allem zu überzeichnen, bis sich tiefere, über einen einzelnen Fall hinausgehende Wahrheiten offenbaren. Deshalb widmet er sich mit einer schon an Besessenheit grenzenden Konzentration dem erst einmal Privaten, also dem Sexleben des Trios. In der Abhängigkeit Tommis, der bei Thomas Schubert etwas von einem geprügelten Hund hat, der trotz aller Schläge und Erniedrigungen nicht genug bekommt, zeigt sich eine Mentalität, die Erfüllung nur in Leid und Gewalt finden kann. So entsteht eine Dynamik in der Beziehung zwischen ihm und Becky, die keine Gelegenheit verstreichen lässt, ihre Macht zu demonstrieren, die sich mehr und mehr aufschaukelt und durch Maiks dominantes Auftreten noch an Sprengkraft gewinnt.
Kinofilm „Wintermärchen“ schockt die Zuschauer
Nur lassen sich die Frustrationen der drei, die alle nicht mit ihrem Leben und der Welt zurechtkommen, nicht alleine in sexuellen Bahnen kanalisieren. Die wahllosen, ideologisch verbrämten Morde, die sie in einer Anwaltskanzlei und mehreren türkischen Supermärkten begehen, dienen wie ihre sadomasochistischen Spielchen der Triebabfuhr. In den Momenten, in denen Maik den Abzug seiner Waffe drückt, strömt alles heraus, was sich sonst in ihm aufstaut.
Jan Bonny geht ein ungeheures Risiko dadurch ein, dass er und sein Benjamin Loeb jegliche Totale und damit auch jede Außensicht verweigern. Sie sperren die Betrachter durch ihre Perspektivwahl und die vor zerstörerischer Energie beinahe vibrierenden Bilder praktisch in einem Raum mit den drei Terroristen ein. Es gibt kein Entkommen, aber eben auch keine weiterreichende Erklärung. Zwei Stunden lang bricht sich die düsterste, die kaputteste Seite des menschlichen Seins ungehindert Bahn. So konfrontieren Bonny und sein absolut furchtloses Schauspiel-Trio das Publikum mit all dem, was es in der Regel ausblendet. Aber es lohnt sich trotz allen Ekels und Entsetzens hinzusehen.