Essen. . Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra bleiben in Essen ohne Klangwunder, gelangen aber nah an eine beglückende Perfektion.

Bei Anton Bruckners Symphonien ist gerne von „Klangkathedralen“ die Rede. „Weihevollste Empfindung“ und „rührendste Innigkeit“ vernahm ein Kritiker bei der einzigen öffentlichen Aufführung der beiden Mittelsätze der Sechsten Symphonie zu Bruckners Lebzeiten. Simon Rattle mag sich solchen Traditionen nicht anschließen. Bei seinem Gastspiel mit dem London Symphony Orchestra in der Essener Philharmonie blieben die Klangwunder aus. Aber der Gang durch Bruckners Musik führt tief hinein in ihre Architektur.

Das mag bedauern, wer sich Bruckner wärmer gespielt wünscht als von den marmorkühlen Londoner Violinen. Wer sich die Bögen im langsamen zweiten Satz leuchtender geschlagen vorstellt. Oder wer auf die weiche, choralsonore Wucht der Blechbläser wartet, denen Rattle eiserne Disziplin beim Gestalten der Lautstärke verordnet.

Mehr als symphonische Weihefestspiele

Dieser Zugriff erweist sich im guten Sinne als leidenschaftslos. Denn beim genauen Hinschauen offenbart sich Bruckners Meisterschaft als Komponist. Der naiv-trottelige Kapellmeister des lieben Gottes hat eben mehr zu bieten als symphonische Weihefestspiele. Rattle macht schon in den ersten Takten klar: Hier geht es um ein unbestechliches Licht, um scharfe Kontraste, um einen prägenden Rhythmus und um kalkulierte Steigerung. Die verschachtelten Satzstrukturen treten in den hellen Schein einer durchdachten Klanglogik, die selbst in Momenten der Aufruhr und der sich türmenden Ballungen durchmodelliert ist. Der Klang, der auf ein Fortissimo zustrebt, deckt nichts zu. Verdichtungen bleiben durchhörbar.

Auf diese Weise wird nicht nur der vielfältige Rhythmus im ersten Satz überraschend deutlich und wichtig. Rattle betont so die Modernität des dritten Satzes, der wenig von altösterreichischer Ländler-Idylle, aber viel von Gustav Mahler hat: Unruhe, fast aggressive Energie, ungeglättet spröde Harmonik. Und wie im vierten Satz schneiden scharfe Abbruchkanten die Melodik auf, vertreibt der zugespitzte Kontrast von Laut und Leise spätromantischen Wohllaut.

Klang, Rhythmus und Struktur als Einheit

Das Orchester bewundert man in der duftigen Behutsamkeit stiller Momente, im ausgezeichneten Piano des Blechs, in der Lust am Dialog, wenn etwa das Horn und eine glanzvoll bewusst gestaltende Solo-Trompete sich die Motive zuspielen. Rattles Bruckner-Zugang macht verständlich, warum am Beginn des Konzerts Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta steht: Auch in diesem Stück bilden Klang, Rhythmus und innere Struktur eine Einheit, die Sir Simon mit dem Londoner Orchester einer beglückenden Perfektion nahe rückt.